Längs der Stille

Das Königreich Lo in Mustang

Ein Königreich im Himalaya an der chinesischen Grenze? Noch nie davon gehört. . Ein Jahr später sollte es Wirklichkeit werden.

Der Annapurna erhebt sich hoch in strahlendem Weiß unter blauem, wolkenlosem Himmel als Hintergrund zum Flughafen Pokhara, wo wir zu Viert, nervös, aber hoffnungsfroh, auf die Entscheidung warten  nach Jomsom, dem Gateway für Mustang in 2700 Meter Höhe fliegen zu können. Diese Flüge sind nur frühmorgens und bei wenig Wind möglich, da die Flugroute durch ein enges Tal an der Annapurna Range mit nur wenigen hundert Metern Abstand von den Felsen geht und als eine der unfallträchtigsten Strecken in Nepal gilt. Endlich wird der Flug freigegeben.  Für 30 Minuten erleben wir eine faszinierende, relativ windfreie Passage  und landen sicher in  Jomson. Erste Eindrücke vom Leben in diesem Teil der Welt sammeln wir hier in diesem Startpunkt für Trekking in das entlegene, weithin unbekannte und somit geheimnisvoll bleibende Königreich Lo.

Erst seit 1992 ist Lo für Reisende geöffnet.  Durch die lange Abgeschiedenheit hat sich die Ursprünglichkeit der Region mit dem stark tibetisch geprägten dörflichen Leben im trockenen Hochgebirgsklima erhalten..   

Schnell wird unser Gepäck in einem Bus verstaut, und wir wandern vier Stunden bis Kagbeni, unserer ersten Unterkunft. Hier gibt es kaum noch natürliches Grün. Bis auf eine Spezialität: hinter hohen Steinmauern, als Schutz vor den starken und kalten Winden, wachsen Apfelbäume, aus denen, wie man uns sagt, köstlicher Apfelschnaps gegoren wird. Mit Blick auf zukünftige Anforderungen verzichten wir und verschieben den Genuss auf den Tag unserer Rückkehr. 

Die Kälte der Nacht ist vorbei, und wir wagen uns vor die Tür in die Wärme der ersten Sonnenstrahlen. Um uns herum reges Treiben, und auf dem Weg zur Visumsstelle kommen wir nur langsam voran, da die Ziegenherden durch den Ort in die Umgebung getrieben werden. Für das Königreich Lo braucht man ein „“Entry Permit“ zusätzlich zum Pass. Mit dem Stempel in der Tasche brechen wir auf, um nach Lo Manthang und zurück zu trekken.

Den ersten Pass hinauf müssen wir noch geduldig hinter einer Ziegenherde aufsteigen, bis sie sich auf der Passhöhe in die Weite der kargen Landschaft verteilt. Letzte Order von unseren Sherpas, und es geht los. Ein Sherpa vorne und einer als Nachhut, beginnen wir erwartungsvoll unsere Wanderung zum nächsten Tagesziel nach Tsarang in 3700 m Höhe. Schon bald merken wir, dass Wandern in dieser Höhe und mit steilen Ab- und Aufstiegen in den Bergen viel Kraft, Ausdauer und Kondition abverlangt, und realisieren, wie wichtig die Anweisung unserer Sherpas war: jeder bewegt sich in seinem Tempo und macht individuelle Pausen. Unsere kleine Vierergruppe ist teilweise bis zu zwei Kilometern auseinander. Der Atem wird flacher, vor allem, wenn es bergauf geht, der Puls schlägt schneller, und immer öfter bleibe ich stehen oder warte im Sitzen auf die Beruhigung des Pulses. Das Panorama scheint wie aus einer andern Welt, das Gestein in allen Gelb- und Brauntönen und immer wieder unglaubliche Ausblicke auf die strahlend weißen Achttausender des Himalaya. Nichts wächst hier, und dann diese Stille, kein Laut außer unseren eigenen Geräuschen dringt an unser Gehör. Nur selten sieht man einen Raubvogel kreisen, es gibt nur Sand, Staub und Felsen. Der Fluß Kali Gandaki schlängelt sich durch die tiefste Schlucht der Welt; der Weg, oft nah an Abgründen, ist schmal und anstrengend zu gehen. Nur selten begegnen wir Einheimischen, die einzeln mit Kiepen auf dem Rücken in beide Richtungen gehen. Mit zunehmender Zeit und der gleichbleibenden Landschaft reduziert sich für mich fast alles auf das Gehen, ohne nach rechts und links zu blicken.

Die physische Anstrengung geht einher mit der Auseinandersetzung mit mir selbst als ständigem innerem Dialog. Mehr und mehr ist nichts außer mir selbst wichtig, ich habe ein Ziel, eine Herausforderung, und ich darf und will nicht aufgeben. Und dann fällt beim Erreichen des Tageszieles in der Erholung all das von mir ab und löst sich auf in ein Glücksgefühl über das Erreichte. Tagsüber allein, immer an der körperlichen Grenze, und auch in nötigen Pausen die Auseinandersetzung mit sich selbst in der Grenzerfahrung der Höhenluft und den Anforderungen der Strecke. Abends kehren wir aus der Alleinigkeit des Tages zurück in die Gemeinschaft. Wir wenden uns mit gelöstem Lächeln im Gesicht wieder einander zu und sind stolz es geschafft und einen zwar kurzen, aber schönen Abend gemeinsam in einer unserer Himalaya Lodges vor uns zu haben. Wir tauschen unsere Emotionen, unsere Gedanken aus und sind gespannt auf das Morgen. Beim Essen ist auch das Gespräch mit den Gastgebern möglich, eine wertvolle Erfahrung. Unsere Gastgeber in dieser ersten Lodge haben eine kleine Tochter, die sich interessiert in unserer Nähe aufhält. Ich schenke ihr Buntstifte und werde mit einem glücklich-strahlenden Lächeln bedankt – und es wird ein Wiedersehen auf unserem Rückweg geben.

Unterwegs mit meinem Sherpa

Wir wissen jetzt genauer, was in den nächsten Tagen an Anstrengungen vor uns liegt. Belohnt dafür werden wir, wenn wir den Blick und den Kopf vom Trekking lösen und uns einmaligen menschlichen, kulturellen und historischen Begegnungen öffnen können. Nach einem längeren Marsch taucht im gleißenden Gegenlicht ein Stupa auf, und vom Kamm aus öffnet sich der Blick auf eine hoch gelegene große Tempelanlage, die alte Gompa von Tsarang.

Die absolute Stille wird plötzlich von einer Stimme unterbrochen. Ein Mönch begrüßt uns. Er ist der Einzige, der noch hier oben geblieben ist. Es ist Oktober, und der eisige Winter im Himalaya rückt näher. Alle anderen Mönche sind schon ins Tal abgestiegen. Nur einer bleibt hier zur Sicherung des Tempels und der alten, nicht transportfähigen Menschen. Die Stille und Einsamkeit am diesem Ort fügt sich ein in meine Gedanken.

Die alte Gompa von Tsarang 13 95 errichtet

Der Mönch freut sich über unseren Besuch, führt uns durch den Tempel und zu unserer großen Überraschung auch zu einem besonderen Schatz in der zugehörigen Bibliothek.

Die Atmosphäre in diesem Raum nimmt mich gefangen, während ich seinen Erklärungen über die Zahl 108 lausche, die heilige Zahl des Buddhismus, über Pustak, ein heiliges Buch mit je 108 Pergamenten mit 54.000 Sutren. Genau 108 dieser Pustaks liegen hier zwischen geschnitzten Holzrücken in den Regalen, in ein Tuch eingeschlagen, mit einem Band umwickelt. Still und in mich gekehrt verlasse ich diesen Raum.

Die Kanpur und Tanjur Originalabschriften in Tsarang

Für die letzte Etappe von Tsarang nach Lo Manthang konnten unsere Sherpas einen der wenigen Jeeps besorgen. Über eine abermals abenteuerliche Steinpiste durch diese wilde, raue und lebensfeindliche Landschaft, am Horizont die weißen Gipfel des Himalaya, fahren wir in Richtung Lo Manthang, der Hauptstadt Mustangs.

Unser Fahrer kurbelt und dreht ständig das Lenkrad herum um durch die engen Kurven zu kommen. Man kann schon Anspannung bei uns erleben, wenn die schmal in den Berg gehauene Piste nur knapp am Abgrund vorbei führt und es neben uns hunderte von Metern in die Tiefe geht. In diesen Momenten kann auch die chinesische Lieblingsmusik unseres jungen Fahrers uns nicht beruhigen. Bei den steilen Steigungen wundern wir uns immer wieder, wie es der Jeep mit 7 Personen und diesem Untergrund über die tiefen Rillen nach oben schafft. Glück haben wir aber auch hier, bei trockenem Wetter, blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein zu fahren. Nur der gleißende Sonnenschein, der sich in den staubüberzogenen Scheiben bricht, blendet oft nicht ungefährlich.

Auf der Etappe nach Lo Manthang überholen wir vereinzelt Menschen mit schweren Lasten, Maultiere oder Pferdekarawanen, fahren vorbei an kleinen, verstreuten Hütten und Stupas mit Gebetsfahnen, die auch überall auf den Passhöhen wehen. Erleichtert verlassen wir den Jeep, erleichtert auch, weil wir wir diese letzte schwierige Etappe nicht hatten laufen müssen.

Vor  unserem Hotel „Lotus“ in der Nähe des Königspalastes angekommen, wundern  wir uns, denn nichts deutet auf eine Hauptstadt hin. Ein größeres Dorf als die anderen, ja, mehr Leben auf den Strassen und eine Sammelstelle für die wenigen Jeeps, die es in Mustang gibt. Auffallend nur der bescheidene Königspalast des 2008 von der nepalesischen Regierung abgesetzten Königs. Heute ohne Fahne. Der König von Lo ist heute nicht in der Stadt. Nahbei die Lo Manthang Art Gallery des berühmten Künstlers und Restaurators der Tempelgemälde, Padang Gurung. Durch den Ort fließt in einem schmalen Kanal Gebirgswasser, wo sich Frauen ihre Haare waschen.

Ich gerate in eine kleine Gasse und sehe mir die alten Hausfassaden an, als ein Stück entfernt auf der anderen Seite ein älterer Mann mir plötzlich zuwinkt. Ich erwidere seinen Gruß, und wir kommen ins Gespräch. Er nimmt mich mit in sein Haus bis nach oben zum Dach, wo sich ein wunderschöner Blick über die Hauptstadt und die Hochebene bis zu den Bergen ergibt. Aus seinem Munde erfahre ich viel über die Stadt und Mustang, was in keinem Reiseführer zu finden ist. Zum Abschluss unserer intensiven Begegnung schenkt er mir eine sehr alte Maske aus seinem Haus, die die bösen Geister von mir fern halten soll. Wir trennen uns mit einer herzlichen Umarmung. Eine zufällige Begegnung, und wir wissen beide, dass es bei dieser einen bleiben wird.

Lo Manthang ist der Wendepunkt unseres Trekkings. Ein ruhiger Tag, an dem wir Teil des normalen Haupstadtlebens sind, mit Besichtigungen und Einkäufen, typischen Gerichten in kleinen Restaurants, aufgenommen von den Geräuschen dieser entlegenen Stadt hoch im Himalaya. Die gute und saubere Luft genießen wir nun ohne die Anstrengung des Trekkens, und unsere Sherpas öffnen uns Türen zu den Menschen, wodurch wir erleben, wie anstrengend es aus unserer Sicht wäre, die Grundbedürfnisse des Lebens auf diese Weise zu sichern – vom Getreidemahlen in einem kleinen Gebäude, in dem man durch den beim Mahlen entstehenden Staub kaum etwas sehen kann – bis in die Küchen der Häuser. Und immer treffen wir auf freundliche und nette Menschen, die sich über unseren Besuch freuen, die hier ihr Lebensglück finden durch Familienstrukturen, Gemeinschaft und Zufriedenheit mit ihrer Welt. Auch auf mich wirkt dies ein und mischt sich mit meiner bisherigen Vorstellung von Glück.

Früh am nächsten Morgen geht die Fahrt mit einem engen, durch spontan im Jeep und auf dem Dach Mitfahrende total überladenen Jeep los in Richtung Samar. Die Passstrasse wird enger, und ich merke, wie bei unserer Gruppe Angst aufsteigt. Ich sitze links vom Fahrer, immer mit freiem Blick in die tiefe Schlucht neben uns. In einer engen Kurve befinde ich mich schon fast jenseits der Strasse über der Schlucht. Unberührt von allem sind unsere einheimischen Mitfahrer. Ich aber spüre die Stimmung hinter mir und bedeute den Sherpas die Fahrt für uns schnell zu beenden. Während einer längeren Phase der Ungewissheit stehen wir auf einem Hochplateau, die wir unruhig, unsere Sherpas aber in stoischer Gelassenheit verbringen. Dann werden wir erlöst und mit dem zugesagten Jeep sicher nach Samar gebracht , einem kleinen Dorf in der Wüstenlandschaft Mustangs, berühmt für die vielen es umgebenden Chörten.

Zu Fuß gehen wir weiter in Richtung Kagbeni. Dort freue ich mich sehr über das Wiedersehen mit dem kleinen Mädchen, dem ich die Buntstifte geschenkt hatte. Sie fängt an zu weinen, als ich sie nach Bildern frage und sagt schluchzend, dass sie kein Papier habe. Wir holen alles an Papier aus unseren Rucksäcken, und ich gebe den Sherpas Geld welches zu kaufen und bei ihrem nächsten Auftrag dort vorbeizubringen. Mit fröhlichem Gesicht beginnt sie sofort zu malen. Es wird dann ein kurzer letzter Abend. Der für hier aufgesparte Apfelschnaps hat eine unglaubliche Wirkung. Ziemlich schnell versinken wir in tiefen Schlaf .

Erholt wachen wir am nächsten Morgen mit dem Gefühl auf, etwas ganz Besonderes erlebt zu haben: Eine große körperliche und geistige Herausforderung zu meistern in einer in ihrer Kargheit doch wunderschönen Natur, mit offenen und herzlichen Menschen. die glücklich und zufrieden in ihrem Glauben und ihrer Tradition leben, weit entfernt von unserem westlichen anspruchsvollen Lebensstil. in den wir allerdings nicht ohne Auswirkungen dieser Erfahrungen zurückkehren.

Veröffentlicht von

Dr.Mielke Burkhard

Dr.Burkhard Mielke Berlin ist meine Stadt – Geburtsort und seit Jahren wieder die Stadt, in der ich lebe. Geprägt hat mich am meisten mein Studium der Romanistik und des Sports an der Sporthochschule und Universität zu Köln. Begeistert hat mich jedoch meine Promotion zum Dr. phil., die mir ermöglichte, mit dem Thema „Tourismus oder Völkerverständigung? Die internationalen Begegnungen der Schulen“ eine Verbindung der Faszination des Reisens mit Begegnungen von damals jugendlichen Menschen, Kulturen und Lebensorten herzustellen. Als junger Lehrer waren es Schüler-Austauschfahrten mit Tunesien, als Schulleiter die Schulpartnerschaften mit Upstate New York, Beijing und Shanghai, als Präsident der Europäischen Schulleitungsvereinigung (ESHA) und Mitglied der Internationalen Schulleitungsorganisation (ICP) viele internationale Tagungen zur Bildung der Jugend an unterschiedlichsten Orten der Welt. Immer war es mein Bestreben, Leute mitzunehmen in diese Faszination des einen Augenblick lang Fremdens, des Austausches und der neuen Erfahrungen, die mir auf immer andere Weise sagen: Ja, das ist meine Welt.

Ein Gedanke zu „Längs der Stille“

  1. Danke, Burkhard, dass du diese Reiseerfahrungen teilst. Und sie so beschreibst, dass ich sie gut nachempfinden kann. Es weckt eigene Erinnerungen an eine Reise im Himalaya. Das so erleben zu können ist ein großes Geschenk.
    Viele Grüße,
    Brigitte

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