Oktober 1997 – Bootsfahrt auf der „Zhong Hua“ durch die drei Schluchten

So langsam werden wir unruhig. Schon eine Weile warten Klaus und ich am Fuße des Ming Tempelberges auf unsere Gruppe, und niemand kommt. Die Abfahrt unseres Schiffes ist auf ca. 9:00 Uhr festgelegt. Es ist 8:45, und wir stehen allein in dem Gewimmel von Ständen und Händlern, inmitten vieler Einheimischer, von denen niemand Englisch versteht. Irgend etwas ist schief gelaufen, und wir fangen an zu ahnen, was passiert ist.
Wir sind zu sechst unterwegs. Eine Delegation aus Krefeld und Moers, neben mir noch Bijun, Chinesisch-Lehrerin in Krefeld und ihr Mann Klaus. Dazu als unsere Betreuung Meimei, die in Shanghai lebende Schwester Bijuns , ein Tour Guide sowie die Lehrerin Li der Nan-Yang Highschool in Shanghai, der zukünftigen Partnerschule der Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Moers. Um diese Partnerschaft und eine weitere in Beijing zu vereinbaren, sind wir nach China geflogen. Zwischen den Verhandlungen in Shanghai und Beijing haben wir diese Flußkreuzfahrt auf dem Yang Tse Kiang gebucht. Es ist eine der letzten Möglichkeiten die Fahrt durch die „drei Schluchten“ vor der großen Flutung für das Staudammprojekt zu erleben. Wir gehen in Chongking am 18. Oktober an Bord unseres Schiffes „Zhong Hua“, was übersetzt China heißt. Kurz danach, am 8. November, wird der Yang Tse vorübergehend für die Schifffahrt gesperrt sein. Ab dann wird das Wasser in einen extra gebauten Kanal umgeleitet, um mit dem Staudammbau zu beginnen. Danach wird es dieses besondere Erlebnis, durch die engen, tiefliegenden Schluchten zu fahren, so nicht mehr geben. Der Flußpegel wird um bis zu 180 Meter steigen.
Es ist ein Schiff für Chinesen. Klaus und ich sind die einzigen Langnasen an Bord und werden mit der einzigartigen Zurückhaltung der Chinesen relativ distanzlos besichtigt. Das Schiff ist bis 2:00 Uhr nachts gefahren und hat für den Rest der Nacht in der Geisterstadt Fengdu angelegt. Gegen 5:30 Uhr werden wir geweckt. Es ist noch stockdunkel, als wir von Bord lange, steile Treppen zum Ufer hoch gehen, wobei ich fast einen dort angepflockten Esel umrenne.

Außer uns sind nur wenige Leute unterwegs. Wir sehen, warum Fengdu die „Geisterstadt“ genannt wird: eine Stadt mit vielen leerstehenden oder schon abgerissenen Häusern der Bewohner, die schon weggezogen sind, weil ihre Stadt schon bald in den Fluten des dann gestauten Flusses versinken wird. An den steil abfallenden Wänden derSchlucht sind deutlich die weißen Farbmarkierungen zu sehen, bis wohin das Wasser steigen wird. Als wir durch das Eingangstor schreiten, wird es langsam hell, und wir fahren mit einer Gondelbahn in absoluter Stille über dichte Bambuswälder den Berg hinauf. Unter uns im Dorf ist die Bevölkerung bereits zum Frühsport angetreten: Schattenboxen, Übungen mit Schwertern und Stöcken, Qigong und modernere Formen wie eine Art Aerobic mit Musik. Die Rentner sitzen schon im Park mit ihren Vogelkäfigen. Dann kommen wir an der Tempelanlage an und klettern über Treppen auf fünf verschiedenen Ebenen zum Gipfel hoch, wo Hölle und Himmel in riesigen Figuren dargestellt sind. Die Seelen aller Menschen gelangen dem Glauben nach an diesen Ort, um entweder in den Himmel oder in die Hölle zu gelangen. Hier hoch oben haben wir einen weiten Blick auf den Yang Tse. Der Morgennebel lässt alles schemenhaft erscheinen wie auf den alten chinesischen Tuschzeichnungen. Die richtige Kulisse für diesen Ort, der seit der Han Dynastie als“ Eingang des Hades“ und auch als Sitz „des Königs der Unterwelt“ galt. Hier gilt es drei Prüfungen zu bestehen, die über Paradies oder Hölle und auch das nächstes Leben bestimmen. Rechtzeitig von unseren Begleitern gewarnt, mit welchem Fuß man über die Schwelle zum Pavillon des Himmelssohnes treten muss. Tritt man als Mann zuerst mit dem rechten Fuß über die Schwelle, wird man als Frau wiedergeboten und umgekehrt. Belächelt werden hier unwissende Touristen, die mal einfach so in die Halle treten. Unsere Begleiter halten sich lange in den einzelnen Tempeln mit verschiedenen Ritualen auf, und wir haben sie schließlich aus den Augen verloren. Ihre unerwartete Frömmigkeit hat uns dann doch überrascht, und wir beschließen mit der Gondel zurück in die Stadt zu fahren und dort auf unsere Gruppe zu warten. Wir warten und warten und warten und niemand kommt. 15 Minuten bleiben uns noch bis zur Abfahrt des Schiffes, und bei uns kommt leichte Panik auf ohne Pass und Gepäck in dieser kleinen Stadt irgendwo in China allein zurückzubleiben. Es gelingt uns mit Mühen, den Weg zum Fluss zu finden. Doch die Erleichterung währt nur kurz, denn dort erleben wir den nächsten Schock. Vor uns liegt nicht nur die eine Anlegestelle mit unserem Schiff. Es sind mehr als zehn Anlegestellen nebeneinander, und an jeder liegen in Reihen viele weitere Boote, was wir in der Dunkelheit nicht gesehen hatten.
Fest davon überzeugt unser Schiff am Namenszug jederzeit wieder erkennen zu können, gelang es uns jetzt nicht bei den vielen Schriftzeichen das Richtige zu finden. Und so gingen wir zur ersten Anlegestelle und dort ins erste Boot mit dem einzigen Anhaltspunkt, unserer Kabinennummer sieben, und wurden gleich enttäuscht. Nach mehreren Fehlversuchen gingen wir mit wachsender Sorge am Ufer entlang, als ich plötzlich den Esel erblickte, und meine morgendliche Begegnung mit dem Esel kam mir in die Erinnerung zurück. Dies war der richtige Steg, und tatsächlich, als man uns beim dritten Schiff die Tür der Kabine Nummer sieben öffneten, sahen wir unser Gepäck und hatten es so gerade noch geschafft. Wer aber noch fehlte, war unsere Gruppe, die eine Weile später auftauchte. Sichtlich nervös und ärgerlich, nachdem sie uns lange Zeit vergeblich gesucht hatten. Uns treffen böse Blicke, und wir geloben feierlich, keine Einzelaktionen dieser Art zu wiederholen, werden aber auf der gesamten weiteren Fahrt immer eng an der Leine gehalten. Des Rätsels Lösung war einfach. Sie waren nicht mit der Gondel zurückgefahren, sondern auf einem Fußweg an einem anderen Tempel vorbei ins Tal abgestiegen. Kurz nach 9:30 Uhr legt unser Schiff dann ab, und Fengdu verschwindet langsam. Die Anspannung läßt nach und wir freuen uns auf die Fahrt durch die weltberühmten Schluchten des Yang Tse.
Mittags schließt sich ein weiterer Landgang in Wangxiang an. Nur eine Stunde haben wir Zeit um den Shibao Pavillon zu besichtigen. Hier ist das Gewimmel noch größer als das heute Morgen, da es nur eine Anlegestelle gibt. Massen von Menschen wälzen sich den Berg hinauf. Steil geht es vom Ufer den Berg hinauf und wir kommen kaum durch, so aggressiv sind die Sänftenträger. Man wird ununterbrochen bedrängt und angefasst. Die Holzpagode ist an den Berg hinauf gebaut und hat zwölf Ebenen, die man über Steintreppen oder Holzstiegen erreicht. Es ist ein schönes Gebäude mit Ausblick auf den Yangtze. Die Zeit ist kurz und deshalb muss der Abstieg etwas schneller geschehen, da das Schiff bald wieder ausläuft. Noch einmal wollen wir nicht in Schwierigkeiten geraten. Den Rest des Tages verbringen wir an Deck, bis wir von Meimei zum Abendessen gerufen werden.
Meimei und Lehrerin Li hatten inzwischen im Dorf alles für unser Abendessen eingekauft. Aus der Kombüse des Schiffes übernahmen sie nur den Reis, da sie den Hygienebedingungen an Bord nicht trauten. Als wir zu unseren Kabinen nach dem Essen zurückkommen, werden wir dort schon erwartet. Es gibt hier ein Deck, auf das man normalerweise nicht oder nur gegen Bezahlung kommt. Bijun hatte unseren Führer darauf angesprochen und ihm für die zuständige Person unsere Visitenkarten gegeben. Visitenkarten sind in China unerlässlich. Und die Wirkung blieb nicht aus. Auf uns warten drei Personen , der Kapitän, sein Vize und der Parteisekretär, Pflichtbegleitung durch die KP Chinas, nicht zur Kontrolle, sondern „nur“ für die Sicherheit an Bord. Wir werden für morgen während der entscheidenden Phase dieser Fahrt in diesen speziellen Raum eingeladen, damit uns niemand dabei stören kann ein Video für die GDCF (Gesellschaft der deutsch-chinesischen Freundschaft“ zu drehen. Welch interessante Geschichte hatten sich unsere chinesischen Begleiter ausgedacht. Auf dem normalen Deck wird dort sicherlich großes Getümmel sein. Es werden noch Fotos gemacht, und man überreicht uns das Gästebuch für eine Eintragung. Wir formulieren die Eintragung in Deutsch und Chinesisch und schreiben noch eine Lobeshymne auf unsere Reisegesellschaft, in der der Reiseführer für seinen Einsatz gelobt wird. Er kümmert sich rührend um uns und hatte auch unsere Visitenkarten sofort zum Kapitän gebracht. Der Fototermin mit dem Kapitän führt fast zu einem Auflauf auf dem Schiff. Der vorher schon gute Service wird weiter intensiviert.

Wir sind gegen 7:00 Uhr durch die erste Schlucht gefahren. Zu sehen, wie sich dieser gewaltige Strom verengt und eingezwängt zwischen hohen Bergen seinen Weg sucht ist ein beeindruckendes Schauspiel im Morgengrauen. Der Jangtse ist hier bis zu 400 Meter tief und nur 150 Meter breit. Es ist die spektakulärste und die schönste der drei Schluchten. Hunderte von Metern ragen die gezackten Gipfel empor, die alle mit Namen belegt sind. Dann wird der Strom wieder breit und wir bekommen nach Wuxia (Wushan), dem Ort wo, die zweite Schlucht beginnt. Hier mündet der Daning Fluss in den Yang Tse, der sich seinen Weg durch die so genannten „drei kleinen Schluchten“ Xiao San Xia bahnt. Unser Tagestrip dorthin ist ein besonderes Erlebnis in kleinen Booten durch die sehr tiefen, engsten Schluchten zu fahren. Zurück an Bord unseres Yang Tse Schiffes geht die Fahrt weiter hinein in die zweite Schlucht, die wir von der Kapitänsbrücke aus erleben. Wir haben noch ein paar Stunden Licht, um den Fluß entspannt zu genießen. Immer wieder tauchen kleine Tempel auf und die zwölf Berge an denen wir vorbei fahren haben alle Namen. Imposant ist wie eng der Fluss wird und oft weiß man nicht, wo und ob es überhauptweitergeht, bis dann nach einer engen Biegung die Fahrrinne wieder zu sehen ist. Im Steuerraum erleben wir die Manöver mit und können das Radar sehen. Die Sonne geht langsam unter als wir in die dritte Schlucht einfahren. Auf Einladung des Kapitän haben wir draußen gesessen auf Logenplätze. Als es dunkel wird gehen wir zum Abendessen. das wie immer mit viel Mühe von Meimei und Frau Li vorbereitet wurde. Allerdings ist vom Umweltschutz her hier alles eine Katastrophe. Das Einweggeschirr und alle Abfälle werden einfach über Bord geworfen. Als wir gerade zu unserer Kabine kommen erwarten uns der Parteisekretär, der Kapitän und der Steuermann. Sie überreichen uns Visitenkarten und Broschüren über das Schiffen und laden uns in den VIP Raum ein, eine besondere Ehre. Es werden viele Komplimente über die Bedeutung der deutsch-chinesischen Freundschaft ausgetauscht. Dann wird gesungen – hier sind alle im Karaokewahn. Schließlich müssen auch wir singen und ernten trotz unserer durch la la la untermalten Textschwäche begeisterten Applaus. Gegen 22:00 Uhr nähern wir uns dann der Schleuse von Gezuba. Der Parteisekretäre holt uns auf die große Brücke, kurz bevor wir in die 1981 erbaute Schleusenanlage einfahren. Bei gleißendem Scheinwerferlicht können wir den gesamten Schleusengang von hier aus beobachten Der Höhenunterschied, der durch die Schleuse überwunden wird, beträgt 19 Meter. Acht Schiffe gleichzeitig werden in die Schleuse manövriert.Wir fahren aus der Schleuse heraus und werden am nächsten Morgen sehen, wie sehr sich Fluss und Landschaft veränderte haben. Unser letzter Tag hat auf dem Schiff begonnen. Der Fluss ist sehr breit geworden. Links und rechts sieht man nur flache Ufer und von Zeit zu Zeit eine Ansiedlung. Nach einer letzten Exkursion zu einem Tempel mit Kalligraphien von Mao kaufen wir für den Abschiedsabend 10 Flaschen Yangtze Bier, die für den Transport kunstvoll mit Kordel zusammengebunden werden. Nach Mitternacht verlassen wir dann in Wuhan unser Schiff, um am nächsten Morgen weiter nach Beijing zu fliegen.
Welch ein Erlebnis, diese Fahrt noch kurz vor der Flutung und dann in einem Schiff ohne Touristen, mit chinesischer Begleitung und privilegiert mit extra Service als Gäste des Kaptäns und der Partei zu erleben.