Tibet

Auf der „Straße der Freundschaft“ von Lhasa nach Kathmandu

Zwischen Gebet und Gewalt

(2012)

Am 22. September – kurz vor Reiseantritt am 6. Oktober  2012 – erreicht mich die Mail von Narayan, unserem nepalesischen Reiseleiter, der für mich schon mehrere Nepalfahrten organisiert und begleitet hat, dass alle Ausländer Tibet verlassen müssen und keine Einreise mehr möglich ist. Die geplante Studienreise mit Schulleiter*innen nach Tibet gerät in Gefahr. Vorfälle in Tibet, wie das Verbrennen einer chinesischen Flagge auf dem Mount Everest und eine Selbstverbrennung anlässlich eines Staatsbesuches in Peking, führen in der angespannten Situation auf chinesischer Seite automatisch zu drastischen Reaktionen. 

Alles ist vorbereitet und gebucht, und jetzt musste in Alternativen gedacht werden, die eigentlich niemand wollte. Erstaunlich die Reaktion der Gruppe: eine optimistisch-positive Lebenseinstellung vertraute auf eine Änderung der Politik bis zu unserer Ankunft. So flogen wir los – nicht ohne zuvor noch einmal alle Visaformalitäten zu erledigen – und kamen mit Etihad Airways und einem längeren Zwischenstopp in Abu Dhabi abends in Kathmandu an.

Vierzehn etwas müde Reisende freuten sich über die Begrüßung mit gelben Schals und einige von uns über ein Wiedersehen mit Narayan von der Nepaltour des letzten Jahres.

Das Hotel Manaslu war ein angenehmes „base camp“ für unsere Unternehmungen.  Hier trafen wir auf eine indische Gruppe, die sich auf die Besteigung des Mount Everests vorbereitete, geleitet von einer der ersten Frauen, der dies schon gelungen war. Ein dichtes Programm, ähnlich dem früherer Nepalfahrten in Kathmandu, lenkte von der Ungewissheit der Einreisemöglichkeit nach Tibet ab:  der frühmorgendliche Flug entlang der Himalayakette und dem Mount Everest, der Schulbesuch in der Bright Future School in Naikap, der Partnerschule der Düsseldorfer Dieter-Forte Gesamtschule, der Besuch des Schamanenzentrums mit Healings und interessanten Einblicken in diese Welt der alternativen Medizin, die UNESCO Weltkulturerbestätten Pashupatinath am heiligen Bagmati-Fluss, wo die Feuerbestattungen stattfinden, die buddhistische Stupa Boudhanath, Bhaktapur, Durban Sqare und Swayambhunath.

Und dann endlich die erlösende Nachricht, dass ab dem 8. Oktober, unserem Flugdatum nach Lhasa, begrenzte Einreisen nach Tibet wieder möglich waren. Wie auch immer Narayan es geschafft hat, wir waren dabei und erreichten nach einem beeindruckendem Flug über den Himalaya bei blauem Himmel und Sonnenschein unser Ziel Lhasa.

Schon Minuten später bei der äußerst intensiven Gepäckkontrolle merkten wir die Höhe, an die wir uns jetzt anpassen mussten. Ob alt, ob jung, sportlich oder nicht, man kann sich nicht darauf vorbereiten. Deutlich wurde diese Ungewissheit, als wir eine Gruppe Jugendlicher trafen, von denen einer kurz nach der Ankunft in Lhasa solche Höhenprobleme bekam, dass er sofort unter Sauerstoffbeatmung  ins Tal geflogen werden musste. Kurzum, wir waren in der glücklichen Lage, dass es oft anstrengend war, einige sich auch zwischendurch schlecht fühlten oder sogar nach eigener Auskunft an ihre Grenzen kamen – niemand aber ernsthaft höhenkrank wurde. Narayan beobachtete uns genau, um Anzeichen für Probleme rechtzeitig erkennen zu können.

 Der Aufstieg zur Besichtigung des Potala Palastes am nächsten Tag, zeigte uns deutlich, was Höhe bedeutet. Alle 50 Stufen mussten wir erst mal pausieren, bevor wir diesen eindrucksvollen Palast und vor allem  die faszinierende historische Atmosphäre in den Räumen erleben konnten, in denen Heinrich Harrer seinerzeit den Dalai Lama unterrichtete.

Der Potala Palast

Dann der Kontrast, der uns unter die Haut ging: in Lhasa überall Videoüberwachung, und an den Eingängen zum Hauptplatz, dem Barkhor Markt und Jokhang Tempel Scannerkontrollen wie am Flughafen. Wir gehen zum Abendessen in ein Lokal, aufgebaut ähnlich einer tibetische Jurte. Ich schiebe den Vorhang beiseite, und keine 30 Meter entfernt steht ein chinesischer Soldat mit Maschinenpistole im Anschlag auf dem Dach. Auf dem Rücken der Soldaten Feuerlöscher. Auf den Plätzen Planen, unter denen Stangen mit Eisenringen zu sehen sind, mit denen brennende Mönche weggezogen werden können. Der Widerstand der tibetischen Mönche hatte neue Wege entwickelt, um den Kontrollen zu entgehen. Die Mönche überschütteten sich mit Benzin, zogen einen Mantel darüber. Dies konnte durch Scannen nicht erkannt werden, und dann setzen sie sich in Brand. 1 ½ Millionen Soldaten, die Hälfte davon in Zivil, überwachen die Besatzung. Nirgendwo wird dies so drastisch vorgeführt wie in Lhasa. 

Nur allmählich gewöhnten wir uns an die dünne Luft, während wir auf der Fahrt über die sogenannte „Straße der Freundschaft“ durch Tibet bis auf 5400 Meter anstiegen. Eine faszinierende, unvergleichliche Landschaft breitete sich täglich vor uns aus. Das helle Weiß des Himalayas, das tiefe Blau der Bergseen, die Steinhaufen und tibetischen Gebetsfahnen, Yak-Herden, weite Getreidefelder in den Tälern und gastfreundliche Tibeter, wo immer wir anhielten. Dazu die berühmten tibetischen Klöster Depung, Tashilhunpo in Shigatse, Gyantse und Samye , mit diskutierenden oder einfach nur meditierenden Mönchen, Klöster mit jahrhundertealten Schätzen der tibetischen Kultur, die den Horden der Kulturrevolution entgangen sind.

Beim Betreten der Klöster taucht man ein in die für uns mystische bunte Welt des tibetischen Buddhismus, dargestellt durch Wandmalereien mit religiösen Motiven einer der vier tibetischen Hauptrichtungen des Buddhismus. Die Atmosphäre aus Stille und gedämpftem Licht mit den Gläubigen in tiefer Frömmigkeit vor den Altären oder im Tempelbereich mit ihren Gebetsmühlen unterwegs die Heiligtümer mehrmals umrundend, nimmt uns gefangen und für einen bestimmte Zeit wird man Teil dieser Lebensform, die zur inneren Ruhe und zum Anhalten des ständigen Weiterdenkens hin zu sich selbst führt. In manchen Klöstern erleben wir das leise Gemurmel betender Mönche, wir riechen die Rauchopfer für bestimmte Götter und hören den hellen kurzen Klang ritueller Instrumente. Gesammelt und beeindruckt kehren wir in unsere Gedankenwelt zurück und setzen die Fahrt fort und brauchen abends die Zeit, diese berührenden Erfahrungen zu besprechen und zu verarbeiten.

Geweckt werden wir frühmorgens von dem Befehlsgeschrei zum Morgenappell der chinesischen Besatzungskompanien, die überall in Tibet verteilt sind. Diese Kasernen liegen außerhalb der kleinen tibetanischen Dörfer, die leider durch die typisch triste Bauweise im ländlichen China verschandelt werden. Am Ausgang der Dörfer sind niedrige Stahlkonstruktionen über die Straßen gebaut, die nur PKWs durchlassen. Mit unserem Bus müssen wir zu einer extra Ausgangssperre mit strenger Kontrolle für Lastwagen und Busse. Die imperiale Dominanz der Chinesen, dieses ehemals frei Tibet für immer zu versklaven, zeigt sich auch in Details. Wo immer wir Hinweisschilder z. B. auf Städte sehen, steht der chinesische Name groß oben und sehr klein der tibetische, ursprüngliche Name darunter.

Unterwegs auf unserem Weg von Ost nach West überwältigen uns wieder die Eindrücke dieser so einzigartigen Landschaft. In einfachen kleinen Hotels übernachten wir, genießen das köstliche tibetische Essen wie Momos und die leckeren Fleischgerichte aus Yak und Hammel. Dazu schmeckte am besten das Lhasa oder Snowbier. Und dies im Zusammensein in einer Gruppe, die harmonisch miteinander auskam. Besonders auch mit Tashi, unserem tibetischen Führer, der so selbstverständlich sein Tibet verkörperte im Konflikt mit der chinesischen Überfremdung. Die letzte tibetische Nacht verbringen wir im Snow Leopard Guesthouse, einer alten Karawanserei gegenüber der chinesischen Seite des Mount Everest. Nepal hatte diese Seite des Himalaya an China abgegeben, um den Expansionsgelüsten des mächtigen Nachbarn etwas von dem ständigen Druck zu nehmen. Wir kommen beim Sonnenuntergang an. Die Spitzen der Berge des Himalayas leuchten rötlich von der Abendsonne, bevor es dann schlagartig äußerst kalt wird. Es gibt einen geheizten Raum im Guesthouse zum Abendessen, und in gemütlicher Runde geht es der kalten Nacht entgegen mit Wasser im Zimmer, gefroren in Eimern, und Zudecken nach der Zwiebelmethode. Wir hatten den Wecker gestellt, um das Schauspiel des Sonnenaufgangs am Mount Everest zu erleben.

Der Sonnenaufgang  sollte uns aus der partiellen Erstarrung erlösen. Es war so kalt, dass sich bei einem von uns eine Maus in seinen Schlafsack geschmuggelt hatte. Aber nichts geschah. Narayan hatte sich um eine Stunde vertan. Mein Vorschlag, uns durch kurze Läufe warm zu halten, endete schnell. Ich hatte die Höhe vergessen, und nach wenigen Metern Laufen war die Luft weg. Wir harrten trotzdem frierend aus bis zu dem grandiosen Lichtspiel des Sonnenaufgangs am Mount Everest. Ein warmes Frühstück taute uns wieder auf, und wir fuhren zur Grenzkontrolle, um Tibet zu verlassen.

Hier erfahren wir, dass Tibet wegen einer weiteren spektakulären Protestaktion erneut für Touristen gesperrt ist. Welches Glück für uns, dieses schmale Zeitfenster geöffnet gefunden zu haben. Wir verabschieden uns von unserem netten tibetischen Führer Tashi, der uns so viel über sein Land erzählt hat. Geboren in einem Tal fern von Lhasa fragte er einst seine Mutter, wann er geboren sei, und ihre Antwort war:  „Es hat geschneit.“

Es geht abwärts in Richtung Kathmandu. Die „Straße der Freundschaft“ in Tibet war militärisch gut ausgebaut, auf nepalesischer Seite wird es eine Abenteuerfahrt durchs Gebirge mit Straßen, durch Erdrutsche und Abbrüche fast unpassierbar, spannend, gerade wenn nichts passiert.

Zurück in Kathmandu erwartete uns unerwartet ein absolutes Highlight unserer Fahrt. Da die Zufahrt zum Mount Everest Basecamp wegen eines Erdrutsches gesperrt war, wurden Bergrettungen von Kathmandu aus gestartet. Durch Narayans Beziehung zu den Piloten erhielten wir die Chance, mit zwei Rettungshelikoptern durch den Himalaya bis zum Everest Hotel in 3800 Meter Höhe zu fliegen. Ein japanisches Hotel, zu dem alles hinaufgetragen werden muss, auch das Wasser für die Badezimmer. Die Luft ist so dünn, dass der Hubschrauber dort nicht mit fünf Personen landen konnte. Bei einem Zwischenstop auf einem Hochplateau werden zwei von uns zur Entlastung abgesetzt um später dort wieder abgeholt zu werden.

Abgesetzt auf einem Plateau irgendwo im Himalaya

Ein überwältigendes Naturerlebnis, als das Geräusch der Hubschrauber in der Ferne verschwindet. Hörbare Stille in der Einsamkeit mitten im Himalaya. Nach einer Weile taucht der Gedanke auf, dass niemand uns hier finden würde, wenn die Hubschrauber ihr Ziel verfehlen würden. Es kommt uns vor wie eine Ewigkeit, bis wir endlich das Tok Tok – Geräusch der Rotoren eines Hubschraubers hören, der dann auch uns zum Himalaya Hotel fliegt.  Zwei Stunden sitzen wir dort vor diesem Panorama mit Lhotse und Mt. Everest in der Sonne und können uns nicht losreißen von diesem Anblick. Dann geht es zurück. Die Rettungsaktion ist vorüber, und wir fliegen ins Tal zurück, um an einem letzten Tag nach Bhaktapur und Patan zu fahren, weitere Weltkulturerbstätten und ehemalige Königstädte im Kathmandutal.

Dann kommt der Abschied von Nepal. Unser Reiseleiter Narayan und der Direktor der Bright Future School, Daya Ram Tapa sind zur Verabschiedung am Flughafen, und die Gruppe fliegt zurück nach Hause.

Vier von uns bleiben zurück um ihre Freiheit noch für eine Anschlusswoche im Königreich Bhutan, dem Land des Bruttonationalglücks als höchster ethischer Einheit, zu verbringen.

Irgendwo in Nepal

 Hoffnung im Chaos nach der Abschaffung der Monarchie 2009eine Eliteschule öffnet sich für die armen Kinder der Region

Bright Future – in dem Namen dieser Schule fokussiert sich Hoffnung gegen Fatalismus. Nepal, Zielort früher Träume ist nun erreicht. Erinnerungen kehren bei mir wie Einsprengsel zurück beim Landeanflug auf Kathmandu: James Hiltons, „Lost Horizon“ oder Lobsang Rampas „ Das dritte Auge“, Shangri – La, das unbekannte Refugium, Mustang ,das geheimnisumwobenes Königreich Lo, das sich lange jedem Tourismus widersetzte.

Dazu Tiziano Terzanis erst idealisierende und dann, an der Realität überprüft, skeptischer werdende Berichte im „Spiegel“ zu Nepal.

All das ist in meinem Kopf bei der Ankunft im Kathmandu International Airport. Hier beginnt nun die Bildungsreise der Schulleitungsvereinigung NRW, angeregt durch unseren Reiseleiter Narayan und den Freundeskreis Nepal aus Münster.

Die Eingangshalle des Hauptstadtflughafens entspricht dem in einer abgelegenen Region ebenso wie die Abwicklung der Einreiseformalitäten ohne Computer von gelangweiltem Personal. Nach nicht nachvollziehbaren Kriterien drückt sich der ungeordnete Pulk durch die schmalen Durchgänge. Nur das Einkassieren der Visagebühr geht zügig vonstatten. Das Begrüßungskomitee der Schule allerdings übertrifft alle Erwartungen an ein farbenfrohes und heiteres Nepal. Geschmückte Mädchen in der roten Landestracht, die Jungen in Anzug und Schlips der Schulkleidung empfangen uns mit strahlenden Gesichtern. Ein Banner wird ausgerollt, und wir werden mit Blumengirlanden und gelben Tüchern umhängt und herzlich willkommen geheißen. Ein Hauch von malerischem Paradies am Fuße des Himalayas.

Es ist heiß, und die Luft ist stickig. Der Schulbus wird uns nach Naikap bringen, ein Stadtviertel im Westen der Außenbezirke Kathmandus. Die Stimmung im Bus zusammen mit den Kindern ist fröhlich, und sie sind neugierig auf uns – wer weiß, was ihre Lehrer ihnen erzählt haben -und wir auf sie. Besonders die Fotoapparate mit der Möglichkeit sich sofort zu sehen haben es den Kindern angetan. Beim Blick aus dem Fenster aber tritt dies zurück, und es verflüchtigen sich die Illusionen der mitgebrachten Vorstellungen.

Kathmandu liegt unter einer Smogglocke in einem Kessel, aus dem Smog nicht entweichen kann, Smog von fossilen Brennstoffen, stinkenden PKW, LKWund unzähligen Mopeds. Vor den Wahlen hatten die „Maoisten“ nicht ohne Erfolg auf das Ergebnis der Wahl allen jungen Männern Mopeds geschenkt. Man sieht sie überall. Wie man hier leben kann, ohne an den Atemorganen zu erkranken, bleibt ein Rätsel – ein Cocktail aus Vitamin D und Gelbwurz soll uns stabil halten. Die ersten Bilder, die an uns vorbeiziehen, sind nur schwer zu ertragen. Dreck und Armut, chaotischer Verkehr und eine staubbelastete Hässlichkeit wohin man blickt. Auf den an Schlaglöchern reichen Straßen werden alle ständig durchgerüttelt und greifen nach Stangen und Polstern. Nur in der Nähe des Regierungsviertels ändert sich das – dafür schaut man auf Wachtürme und Soldaten mit Maschinengewehren auf Lafetten mitten in der Stadt. Ein sicheres Zeichen von mit Angst gepaarter Gewalt, bei den nach der Abschaffung des Königtums nun hier herrschenden sogenannten „Maoisten“.

Der Schulbus hält in Naikap, einem dorfähnlichen Stadtteil am Rande Kathmandus, ohne Straßen. Es sind Sand- und Steinwege in einer braun verbrannten und ausgedörrten Landschaft. Seit Monaten hat es hier nicht geregnet, und alle warten sehnsüchtig auf den Monsun. Wir klettern den Weg hinauf zum Schamanenzentrum, wo wir die nächsten Tage wohnen werden. Auch hier wieder eine so herzliche Begrüßung besonders durch Mohan Rai, den obersten Schamanen Nepals, die uns alles um uns herum vergessen lässt. Mohan Rai ist der Begründer und Direktor des „Shamanistic and Research Center“ und unterstützt das Schul-und Patenprojekt in Naikap

Mohan Raj

Das Haus ist einfach. Wir wohnen in schlicht ausgestatteten Zweibettkammern und richten uns ein. Hier muss man möglichst viel bei Tageslicht erledigen. Die „maoistische“ Regierung lässt nur vier Stunden Strom zu, und das jeweils in den einzelnen Stadtvierteln nacheinander. Man weiß nie genau wann es soweit ist. Mal hat man Strom von 1 – 4 Uhr morgens, wenn alles schläft, mal tagsüber. Nächtliche Beleuchtung bleibt eine Überraschungsangelegenheit ohne Generator , dafür mit Kerzen und Petroleumlampen. Ein uns ungewohnter Anblick, diese Kerzen auf den Treppenstufen, wenn wir zum Dach hinaufsteigen, um den leichten Wind gegen die Hitze zu genießen, fast schon romantisch, wenn es nicht so elend wäre und die Stupidität einer Regierung bezeugen würde, die auf diese Weise keine Arbeitsplätze schaffen wird . Hier scheint man noch nicht einmal die Diskrepanz zwischen verantwortungsvollem Regieren und der gleichzeitigen Fortführung von Sabotage und Mangelwirtschaft zu verstehen noch gar den Mangel auflösen zu wollen, und es bleibt ein weiterer Niedergang des Landes zu befürchten.

In einem ersten Treffen werden wir über den Stand der Projekte des Freundeskreises Nepal informiert, über das Patenkindprogramm mit Schulstipendien und den Schulneubau. Eine beeindruckende Arbeit ist hier in den letzten Jahren geleistet worden.

Unsere Ankunft hat sich herumgesprochen, und überall schallt uns ein herzliches Namaste entgegen, Hände werden zusammengelegt und das Gesicht uns zugewandt. Dieses Namaste wird uns die nächsten Tage begleiten, und es ist keine Floskel. Aufgeschlossenheit und Freude drücken sich hierin aus. So viel Strahlen, Unbeschwertheit und Freude bei den Kindern macht auch uns glücklich. Nur in den Gesichtern vieler Erwachsener zeigt sich die Not – auch wenn sie es eigentlich nicht zeigen wollen. Wir fahren in die Bright Future School, wo wir mit hundertfachem Namastei begleitet durch ein Spalier von Eltern, Kindern und Lehrern zum Versammglungsplatz der Schule geführt werden. Hier sitzen wir unter einem großen Sonnensegel, und verfolgen auf einer kleinen Bühne neben der Begrüßungsansprache des Schulleiters Daya Ram Thapa eine gekonnte Abfolge von Musik und Tanz, die uns stark beeindruckt. Hierin zeigt sich auch die Besonderheit dieser Schule, die bei allen Wettbewerben in Asien zu den Siegern gehört.

Viel Beifall, und dann folgen weitere Tanzdarbietungen. Wir werden auf die Bühne geholt, und alles endet im gemeinsamen Tanz. Erst jetzt merken wir, dass diese Feier fast 4 Stunden gedauert hat.

 In einem weiteren feierlichen Moment wird eine Schulpartnerschaft mit der Dieter-Forte-Gesamtschule in Düsseldorf, mit dem ausdrücklichen Ziel eines Lehrer- und Schüleraustausches, durch Unterschriften und Urkunden besiegelt. 

Unterschriften für die Schulpartnerschaft

Am nächsten Tag ist Sprechstunde. Mütter kommen mit ihren Kindern, um für diese eine Patenschaft für den Schulbesuch der Bright Future School zu erhalten. Interviews werden geführt, Fotos gemacht, und am Ende gibt es 12 neue Patenkinder, die ab der nächste Woche in diese Schule mit Ganztagsbetrieb und Schulspeisung gehen können. Sie dürfen nun mit anderen Kindern und Jugendlichen in diese Schule gehen, deren Eltern das Schulgeld selbst bezahlen können und für die Bildung und satt werden selbstverständlich ist. Verbunden damit laufen Bemühungen, Wohnungen für die Familie derPatenkinder zu finden. Sie kommen oft aus den Wellblechhütten neben ihrem Arbeitsplatz in der Ziegelfabrik. Nur so kann die Voraussetzung für eine gesunde und zukunftsorientierte Entwicklung möglich werden. Die Kinder sind die Zukunft des Landes, denn ohne Bildung gibt es keine Zukunft. Gekoppelt ist der Schulbesuch der Mädchen und Jungen mit der Teilnahme der Mütter an der Abendschule. Hier lernen sie Lesen und Schreiben, erschließen sich den Zugang zu Informationen. Es ist ein Stück Hilfe zu mehr Würde und Emanzipation der Frauen und wird auch so empfunden. 300 Mütter nehmen an dieser Abendschule teil. Wir gehen in die Familien der Patenkinder und prüfen, ob alles den Absprachen entspricht und das Geld, das über das Schulgeld hinaus für besondere Zwecke bezahlt wird wie Medikamente bei schweren Erkrankungen, auch so genutzt wird wie geplant.

Zurück von den Hausbesuchen, werden die Erfahrungen ausgetauscht, Berichte verfasst und die Aufgaben für den nächsten Tag verteilt. Die Ärztinnen berichten über ihre Krankenbesuche und ihre Sprechstunden, durchgeführt unter freiem Himmel und in Höfen.

Am nächsten Morgen ist Baubesprechung. Die Schule muss neu errichtet werden. Eine von den „Maoisten“ ohne Rücksicht auf die Schule verfügte neue Schnellstraße macht den bisherigen Schulweg lebensgefährlich und nimmt der Schule den Raum. Die geplante neue Schule rückt näher ans Viertel heran, das Land ist langfristig gepachtet und besonders wichtig in dieser Gegend: sie soll erdbebensicher gebaut werden. Es gibt genug Fläche auch für angrenzende Sportanlagen. Alles sieht gut aus. Jetzt warten alle auf den Monsunbeginn, denn ohne Wasser – wie jetzt in der Dürre – kann nicht gebaut werden. Und noch eine Hürde ist da. Die „Maoisten“ wollen von allem 25% Steuern kassieren. Die Linie ist klar: keine Spenden mit Abzug , so wie auch kein Cent der Spenden in Verwaltungskosten geht.

Umzüge von zwei Familien stehen auf dem Programm. Der Besuch in den Familien der neuen Patenkinder hat teilweise erschreckende Wohnverhältnisse offenbart. Zimmer oder Ladenverschläge mit Rollgitter für 4 Persone ohne Tageslicht, Strom, Wasser und Toiletten – kaum zu glauben wie man dort leben kann, kaum zu glauben wie die Familien es schaffen ihre Kinder zu ernähren und so sauber und adrett in die Welt zu schicken. Mit Hilfe des Schamanen gelingt es uns Zimmer anzumieten, die ein menschenwürdiges Wohnen erlauben Dazu gibt es für den Start einen Grundeinkauf nach einer Liste für Grundnahrungsmittel für die nächsten Wochen. Eine Diskussion über den sogenannten „Tropfen auf den heißen Stein“ ist nicht zu verstehen. Auch nur eine Familie ins Leben zurückzuführen, einem Kind das Lernen zu ermöglichen, ist jede Anstrengung wert.

Ein letztes Bild bei unserem Abschied prägt sich ein. Es war uns nur am Rande aufgefallen, dass wir keine Ball spielenden Kinder gesehen haben. Ein Fußball und ein Netz mit anderen Bällen wird den Kindern am Morgen geschenkt, und als wir in den Minibus steigen, der uns zum Flughafen bringt, sehen wir eine Schar Jungen, die sich ein Feld mit Toren geschaffen haben, die so begeistert Fußball spielen, dass sie unsere Abfahrt nicht bemerken.

Palau

2015 – eine Insel voller Wunder

Inselrepublik in Mikronesien im Westen des Pazifiks

Absolute Stille. Nur das Geräusch der in die nachtdunkle See eintauchenden Paddel ist zu hören. Und plötzlich leuchtet das Wasser. Bei ruhiger See und schwachem Mondlicht erleben wir dieses Naturwunder. Bei Berührung im Wasser leuchtet das Plankton und etwas tiefer im Wasser sieht man andere ebenfalls leuchtende kleinste Lebewesen. Bei jedem Paddelschlag kommt das Leuchten wieder. Wir sind in Palau auf Ngellil Nature Island, in einem kleinen Resort, welches nur mit dem Boot zu erreichen ist. Saburo Ishige, der japanische Besitzer der Insel, hatte uns von diesem Naturphänomen erzählt, und dann, an einem Abend nach Einbruch der Dunkelheit, haben wir Glück. Die Bedingungen stimmen, und er holt uns zum Strand. Wir besteigen ein Kanu und paddeln hinter ihm in die Nacht hinein. Irgendwo zwischen den eng beieinander liegenden „Rock Islands“, grüne bewaldete Erhebungen aus Kalkstein, halten wir an und können nicht oft genug die Paddel vorsichtig ins Wasser gleiten lassen, um das Meer zum Leuchten zu bringen

Saburo bindet unser Kanu an seins, paddelt langsam zurück, und wir können einfach nur im Kajak sitzen und das Schauspiel genießen.

Leuchtendes Plankton

Von Taiwan aus sind wir nach einem Familienbesuch weiter nach Palau in Mikronesien geflogen. Eine kleine Republik, die nach Besatzungen durch Spanien, Deutschland und Japan, dann als Treuhandgebiet den USA zugeschlagen, endlich 1994 unabhängig wurde. Zuvor hatte es den von den USA gewünschten Beitritt zu den Föderierten Staaten von Mikronesien verweigert. Für eine Woche hatten wir dieses kleine, fernab liegende und nur mit Boot zu erreichende Ngellil Nature Island Resort gebucht.

Bevor wir in die Abgeschiedenheit der Rock Islands eintauchen, haben wir ein paar Tage, um Palau kennenzulernen und einen Eindruck von den Menschen, den Lebensbedingungen und den Sehenswürdigkeiten zu gewinnen. Mit einem Mietwagen kommen wir zuerst zu den Versammlungshäusern (Abeis), Langhäusern für die Männer, aus deren bunter Bemalung sichtbar wird, dass die Bewohner früher im Matriarchat lebten, von dem sich noch bis heute Teile erhalten haben. Etwas weiter entfernt von unserem Domizil besichtigen wir die beeindruckende Anlage von Ngerchelong, in welcher große schwarze Monolithen mit zum Teil verwitterten Gesichtern über das Gelände verteilt sind. Woher sie kommen ist bis heute unbekannt. Der Sage folgend wurden diese von den Göttern tief im Meer in totaler Finsternis aus den Felsen geschnitten und auf die Insel gebracht, um einen Versammlungsplatz zu bauen. Bei der Arbeit wurden sie durch den Schöpfer des Sonnenlichtes überrascht und gaben den Bau auf, da sie nur im Dunkeln arbeiten können.

In der Abendsonne draußen in einem Restaurant zu sitzen mit Blick auf die grünen Rocks im tiefblauen Wasser, wäre allein schon ein Grund hierher zu fahren und die weißen Strände und die einmalige Unterwasserwelt zu bewundern.

Doch was wir am nächsten Tag erleben, ist ein weiteres zauberhaftes Naturwunder : Die Quallenseen, die in den Rock Islands liegen.

Es sind Seen, die zum Wasseraustausch in Verbindung mit dem Meer stehen. Die Risse im Gestein sind so fein, dass keine anderen Tiere vom Meer hindurch in die Seen gelangen können. Deswegen gibt es hier nur endemische Lebewesen.

Einer dieser Seen ist für Besucher zugänglich, der Jellyfish Lake.

Wir wandern dorthin, um in diesem See zu schnorcheln. Etwas ungläubig, ob wir der Zusage trauen können, dass diese Jellyfische nicht doch bei Berührung brennen, tauchen wir in eine Wunderwelt inmitten von Tausenden von orangefarbenen Quallen, durch die wir vorsichtig hindurchschwimmen, um sie nicht zu verletzen. Von allen Seiten sind wir umgeben und in Kontakt mit den Quallen, die dazu im Gegenlicht der Sonne noch besonders leuchten.

Ein unbeschreibbares Gefühl, sanft unbeschadet mit diesen sonst so unangenehm assoziierten Tieren zu schwimmen. Das Geheimnis ist, dass diese Quallen seit ewigen Zeiten hier leben ohne natürliche Feinde, ausgenommen später eingeschleppte Seeanemonen. Ihre Tentakeln haben sich zurückgebildet und ihr Gift reicht nur für ihre Hauptnahrungsquelle, kleine Ruderflußkrebse. Und weiter geht es danach zum nächsten Naturwunder, von den Einheimischen „The Milky Way “ genannt, eine Bucht, die nicht am Grund aus Sand oder Fels besteht, sondern aus Kalksteinschlamm. Man taucht hinunter und reibt sich den ganzen Körper mit dem kreidehaltigem Schlamm ein, legt sich zum Trocknen in die Sonne und wartet auf die versprochene Verjüngung der Haut, die allerdings lange auf sich warten läßt

Am nächstem Morgen sitzen wir dann in einem Boot und fahren in etwas mehr als einer halben Stunde bei Flut nach Ngellil. Bei Ebbe hätte es fast zwei Stunden gedauert.

Ngellil Nature Island in den Rock Islands – Unesco Kulturerbe der Menschheit

Wir laufen in eine kleine Bucht ein und waten durch das flache Wasser an Land in ein wildes Paradies. Der Besitzer der Insel und sein Koch begrüßen uns höflich und wir beziehen unser Zimmer mit Blick aufs Meer und zur anderen Seite auf die tropische Vegetation des Regenwaldes. Alles ist aus natürlichen lokalen Materialien, dies ist das Prinzip der Anlage. Erst da erfahren wir, dass wir die einzigen Gäste für die ganze Zeit unseres Aufenthaltes sind. Nur einmal kommt ein Boot mit einem Brautpaar für romantische Hochzeitsfotos kurz hierhin.

Wir schwimmen in der kleinen Bucht, bewundern blaue Seesterne, dösen unter Palmen in Hängematten. erkunden die nähere Umgebung. Gegen Abend hören wir Flötenklänge, ein Ritual, das sich jeden Abend wiederholt. Saburo Ishige spielt Flöte und danach ist es Zeit für das Abendessen. Ein Feuer lodert und das Essen wird uns auf Bananenblättern serviert. Alles ist frisch aus dem Meer, die Beilagen auf der Insel angepflanzt oder im Regenwald geerntet. Daneben viele kleine Leckerbissen und Gemüse, deren einheimische Namen wir uns aber nicht merken können. Am nächsten Tag wandern wir mit Saburo Ishige in den Dschungel zu einem besonderen Baum, den Power Baum, aus dem er persönlich seine Kraft bezieht, indem er ihn für einen kurzen meditativen Moment fest umarmt. Danach zeigt und erntet er Pflanzen und Obst, die für uns in den nächsten Tagen zubereitet werden. Immer auf einem offenen Feuer in dunkler tropischen Nacht unter einem traumhaften Sternenhimmel. Dazu das Knistern der Flammen und die nächtlichen Geräusche des Dschungels. Über uns umkreisen die Satelliten und die Raumstation die Erde. So verbringen wir die Abende zu Viert.

Und noch einmal geht es am nächsten Tag in den Dschungel zu einer weiteren Sehenswürdigkeit. Die Insel hat auch den Beinamen Stonemoney Island. Wir wandern durch den Dschungel, und dann, in einer Lichtung sehen wir den riesigen Stein mit einem Loch in der Mitte: das berühmte Steingeld dieser Region.

Stone Money auf Palau

Hier wurde es produziert und dann übers Meer auf abenteuerlichen Fahrten nach Yap gebracht, eine der Inseln Mikronesiens – 452 km Luftlinie entfernt. Bis heute kann man sie dort sehen, und sie haben immer noch ihren Wert als Zahlungsmittel. Entscheidend für den Wert ist aber nicht die Größe, sondern es sind die zu überwindenden Gefahren beim Transport über das Meer mit Kajaks. Hier stehen wir vor einem zurückgebliebenen Stone money.

Viel zu schnell vergeht die Zeit. Bevor wir auf die Hauptinsel zum Rückflug kommen, erleben wir die einmalig schöne Unterwasserwelt. Wir tauchen in dieses Farbenspiel der Korallen und Fische ein – zuerst an einem Riff mit blauen Korallen. Ein zweiter Stopp am Beginn eines Channels. Wir gleiten mit der Strömung bis fast zum Ende des Kanal, wo unser Boot auf uns wartet. Es ist nicht einfach, dann aus der Strömung seitwärts hinauszuschwimmen. Palau ist ein unvergleichliches Unterwasserparadies, erstes Haischutzgebiet der Welt und seit 1992 auf der World Heritage Liste mit den Rock Islands Southern Lagoon. Einen Teil davon so intensiv zu erleben bleibt unvergesslich. Schwerer konnte uns der Abschied nicht gemacht werden als mit dem Eintauchen und Treibenlassen in dieser Korallenwunderwelt mit Meerestieren in allen Farben und Formen.

(Fotos B.Mielke und Touristen Information Palau)

Verloren am Yang Tse Kiang

Oktober 1997Bootsfahrt auf der „Zhong Hua“ durch die drei Schluchten

http://www.china-guide.de/

So langsam werden wir unruhig. Schon eine Weile warten Klaus und ich am Fuße des Ming Tempelberges auf unsere Gruppe, und niemand kommt. Die Abfahrt unseres Schiffes ist auf ca. 9:00 Uhr festgelegt. Es ist 8:45, und wir stehen allein in dem Gewimmel von Ständen und Händlern, inmitten vieler Einheimischer, von denen niemand Englisch versteht. Irgend etwas ist schief gelaufen, und wir fangen an zu ahnen, was passiert ist.

Wir sind zu sechst unterwegs. Eine Delegation aus Krefeld und Moers, neben mir noch Bijun, Chinesisch-Lehrerin, und ihr Mann Klaus. Dazu als unsere Betreuung Meimei, die in Shanghai lebende Schwester Bijuns , ein Tour Guide sowie die Lehrerin Li der Nan-Yang Highschool in Shanghai, der zukünftigen Partnerschule der Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Moers. Um diese Partnerschaft und eine weitere in Beijing zu vereinbaren, sind wir nach China geflogen. Zwischen den Verhandlungen in Shanghai und Beijing haben wir diese Flusskreuzfahrt auf dem Yang Tse Kiang gebucht. Es ist eine der letzten Möglichkeiten die Fahrt durch die „drei Schluchten“ vor der großen Flutung für das Staudammprojekt zu erleben. Wir gehen in Chongking am 18. Oktober an Bord unseres Schiffes „Zhong Hua“, was übersetzt China heißt. Kurz danach, am 8. November, wird der Yang Tse vorübergehend für die Schifffahrt gesperrt sein. Ab dann wird das Wasser in einen extra gebauten Kanal umgeleitet, um mit dem Staudammbau zu beginnen. Danach wird es dieses besondere Erlebnis, durch die engen, tiefliegenden Schluchten zu fahren, so nicht mehr geben. Der Flusspegel wird um bis zu 180 Meter steigen.

Es ist ein Schiff für Chinesen. Klaus und ich sind die einzigen Langnasen an Bord und werden mit der einzigartigen Zurückhaltung der Einheimischen relativ distanzlos besichtigt. Das Schiff ist bis 2:00 Uhr nachts gefahren und hat für den Rest der Nacht in der Geisterstadt Fengdu angelegt. Gegen 5:30 Uhr werden wir geweckt. Es ist noch stockdunkel, als wir von Bord lange, steile Treppen zum Ufer hoch gehen, wobei ich fast einen dort angepflockten Esel umrenne.

Die Geisterstadt Fengdu

Außer uns sind nur wenige Leute unterwegs. Wir sehen, warum Fengdu die „Geisterstadt“ genannt wird: eine Stadt mit vielen leerstehenden und halb abgerissenen Häusern der Bewohner, die schon weggezogen sind, weil ihre Stadt schon bald in den Fluten versinken wird An den steil abfallenden Wänden der Schlucht sind deutlich die weißen Markierungen zu sehen, bis wohin das Wasser steigen wird. Als wir durch das Eingangstor schreiten, wird es langsam hell, und wir fahren mit einer Gondelbahn in absoluter Stille über dichte Bambuswälder den Berg hinauf. Unter uns im Dorf ist die Bevölkerung bereits zum Frühsport angetreten: Schattenboxen, Übungen mit Schwertern und Stöcken, Qigong und modernere Formen wie eine Art Aerobic mit Musik. Die Rentner sitzen im Park mit ihren Vogelkäfigen.

Dann kommen wir an der Tempelanlage an und klettern über Treppen auf fünf verschiedenen Ebenen zum Gipfel hoch, wo Hölle und Himmel in riesigen Figuren dargestellt sind. Die Seelen aller Menschen gelangen dem Glauben nach an diesen Ort, um entweder in den Himmel oder in die Hölle zu gelangen. Hier hoch oben haben wir einen weiten Blick auf den Yang Tse. Der Morgennebel lässt alles schemenhaft erscheinen wie auf den alten chinesischen Tuschzeichnungen. Die richtige Kulisse für diesen Ort, der seit der Han Dynastie als“ Eingang des Hades“ und auch als Sitz „des Königs der Unterwelt“ gilt. Hier gilt es drei Prüfungen zu bestehen, die über Paradies oder Hölle und auch das nächstes Leben bestimmen. Rechtzeitig werden wir von unseren Begleitern gewarnt, wie bedeutend, es ist mit welchem Fuß voran man über die Schwelle durch das Tor zur Hölle geht. Tritt man als Mann zuerst mit dem rechten Fuß über die Schwelle, wird man als Frau wiedergeboren. Als Frau ist es umgekehrt. Belächelt werden hier unwissende Touristen, die mal einfach so in die Halle treten.

Unsere Begleiter halten sich lange in den einzelnen Tempeln mit verschiedenen Ritualen auf, und wir haben sie schließlich aus den Augen verloren. Ihre unerwartete Frömmigkeit hat uns überrascht, und wir beschließen mit der Gondel zurück in die Stadt zu fahren, um dort auf unsere Gruppe zu warten. Wir warten und warten und warten und niemand kommt. 15 Minuten bleiben uns noch bis zur Abfahrt des Schiffes, und bei uns kommt leichte Panik auf, ohne Pass und Gepäck in dieser kleinen Stadt irgendwo in China allein zurückzubleiben und auch die Schluchtenfahrt zu verpassen. Es gelingt uns mit Mühen, den Weg zum Fluss zu finden. Doch die Erleichterung währt nur kurz, denn dort erleben wir den nächsten Schock. Vor uns liegt nicht nur die eine Anlegestelle mit unserem Schiff. Es sind mehr als zehn Anlegestellen nebeneinander, und an jeder liegen in Reihen viele weitere Boote, was wir in der Dunkelheit nicht gesehen hatten.

Fest davon überzeugt unser Schiff am Namenszug jederzeit wieder erkennen zu können, gelang es uns jetzt nicht bei den vielen Schriftzeichen das Richtige zu finden. Und so gingen wir zur ersten Anlegestelle und dort ins erste Boot mit dem einzigen Anhaltspunkt, unserer Kabinennummer sieben, und wurden gleich enttäuscht. Nach mehreren Fehlversuchen gingen wir mit wachsender Sorge am Ufer entlang, als ich plötzlich einen Esel erblickte, und meine morgendliche Begegnung mit ihm kam mir in die Erinnerung zurück. Dies war der richtige Steg, und tatsächlich, als man uns beim dritten Schiff die Tür der Kabine Nummer sieben öffneten, sahen wir unser Gepäck und hatten es so gerade noch geschafft. Wer aber noch fehlte, war unsere Gruppe, die eine Weile später auftauchte. Sichtlich nervös nachdem sie uns lange Zeit vergeblich gesucht hatten. Uns treffen böse Blicke, und wir geloben feierlich, keine Einzelaktionen dieser Art zu wiederholen, werden aber auf der gesamten weiteren Fahrt immer eng an der Leine gehalten. Des Rätsels Lösung war einfach. Sie waren nicht mit der Gondel zurückgefahren, sondern auf einem Fußweg ins Tal abgestiegen. Kurz nach 9:30 Uhr legt unser Schiff mit leichter Verspätung ab und Fengdu verschwindet langsam am Horizont Die Anspannung lässt nach und wir freuen uns auf die Fahrt durch die weltberühmten Schluchten des Yang Tse.

Mittags schließt sich ein weiterer Landgang in Wangxiang an. Nur eine Stunde haben wir Zeit um den Shibao Pavillon zu besichtigen. Die Zeit ist kurz und deshalb muss der Abstieg etwas schneller geschehen, da das Schiff bald wieder ausläuft. Noch einmal wollen wir nicht in Schwierigkeiten geraten. Den Rest des Tages verbringen wir an Deck, bis wir von Meimei zum Abendessen gerufen werden.

Meimei und Lehrerin Li hatten inzwischen im Dorf alles für unser Abendessen eingekauft. Aus der Kombüse des Schiffes übernahmen sie nur den Reis, da sie den Hygienebedingungen an Bord nicht trauen. Allerdings ist vom Umweltschutz her hier alles eine Katastrophe. Das Einweggeschirr und alle Abfälle werden einfach über Bord geworfen.

Als wir nach dem Essen zu unseren Kabinen zurückkommen, werden wir dort schon erwartet. Es gibt hier ein Deck, auf das man normalerweise nicht oder nur gegen Bezahlung kommt. Bijun hatte unseren Führer darauf angesprochen und ihm für die zuständige Person unsere Visitenkarten gegeben. Visitenkarten sind in China unerlässlich. Und die Wirkung blieb nicht aus. Auf uns warten drei Personen , der Kapitän, sein Vize und der Parteisekretär, Pflichtbegleitung durch die KP Chinas, nicht zur Kontrolle, sondern „nur“ für die Sicherheit an Bord. Wir werden für morgen während der entscheidenden Phase dieser Fahrt auf dieses Deck eingeladen, damit uns niemand dabei stören kann ein Video für die GDCF (Gesellschaft der deutsch-chinesischen Freundschaft) zu drehen. Welch interessante Geschichte hatten sich unsere chinesischen Begleiter ausgedacht. Auf dem normalen Deck wird dort sicherlich großes Gedrängel während der Schluchtenfahrt sein. Es werden noch Fotos gemacht, und man überreicht uns das Gästebuch für eine Eintragung. Wir formulieren die Eintragung in Deutsch und Chinesisch und schreiben eine großes Lob für unseren Reiseführer hinein. Er kümmert sich rührend um uns und hatte auch unsere Visitenkarten sofort zum Kapitän gebracht. Der sich anschließende Fototermin mit dem Kapitän führt fast zu einem Auflauf auf dem Schiff. Der vorher schon gute Service wird weiter intensiviert. und entwickelt sich für uns zu einer privilegierten Bootsfahrt auf Einladung des Kapitäns.

Bild von: chinarundreisen.com

Wir sind gegen 7:00 Uhr durch die erste Schlucht gefahren. Zu sehen, wie sich dieser gewaltige Strom verengt und eingezwängt zwischen hohen Bergen seinen Weg sucht ist ein beeindruckendes Schauspiel im Morgengrauen. Der Jangtse ist hier bis zu 400 Meter tief und nur 150 Meter breit. Es ist die spektakulärste und die schönste der drei Schluchten. Hunderte von Metern ragen die gezackten Gipfel empor, die alle mit Namen belegt sind. Dann wird der Strom wieder breit und wir bekommen nach Wuxia (Wushan), dem Ort wo, die zweite Schlucht beginnt. Hier mündet der Daning Fluss in den Yang Tse, der sich seinen Weg durch die so genannten „drei kleinen Schluchten“ Xiao San Xia bahnt. Unser Tagestrip dorthin ist ein besonderes Erlebnis in kleinen Booten durch die sehr tiefen, engsten Schluchten zu fahren. „Wie mit dem Messer in den Berg geschnitten“ sagt man hier dazu. Zurück an Bord unseres Yang Tse Schiffes geht die Fahrt weiter hinein in die zweite Schlucht, die wir von der Kapitänsbrücke aus erleben. Wir haben noch ein paar Stunden Licht, um den Fluß entspannt zu genießen. Der Yang Tse wird hier so eng, dass man oft nicht weiß, wo und ob es überhaupt weitergeht, bis dann nach einer engen Biegung die Fahrrinne wieder zu sehen ist.

Die für den Steuermann schwierigen Manöver dürfen wir im Steuerraum mit Blick auf das Radar erleben. Die Sonne geht langsam unter als wir in die dritte Schlucht einfahren. Auf Einladung des Kapitän haben wir dies draußen wie auf Logenplätzen erlebt. Dazu erhalten wir als besondere Ehre eine Abendeinladung in den VIP Raum des Schiffes. Man überreicht uns Visitenkarten und Infobroschüren über das Schiff. Es werden viele Komplimente über die Bedeutung der deutsch-chinesischen Freundschaft ausgetauscht. Und dann, Hobby des Kapitäns, wird gesungen – hier sind alle Karaokefans und der Raum ist speziell hierfür eingerichtet. Schließlich müssen auch wir singen und ernten trotz unserer durch la la la untermalten Textschwäche begeisterten Applaus. Gegen 22:00 Uhr nähern wir uns dann der Schleuse von Gezuba. Als letzten speziellen Service holt uns der Parteisekretäre auf die große Brücke, kurz bevor wir in die 1981 erbaute Schleusenanlage einfahren. Bei gleißendem Scheinwerferlicht können wir den gesamten Schleusengang von hier aus beobachten, der früher überhaupt erst die Schifffahrt westwärts ermöglichte. Wir fahren aus der Schleuse heraus und sehen am nächsten Morgen, wie sehr sich Fluss und Landschaft veränderte haben. Unser letzter Tag auf dem Schiff hat begonnen. Der Fluss ist sehr breit geworden. Links und rechts sieht man nur flache Ufer und von Zeit zu Zeit eine Ansiedlung. Nach einer letzten Exkursion zu einem Tempel mit Kalligraphien von Mao kaufen wir für den Abschiedsabend viele Flaschen Yangtze Bier, die für den Transport kunstvoll mit Kordel zusammengebunden werden und verabschieden uns voller Dankbarkeit vom Leitungsteam des Schiffes, das uns diese Fahrt so einzigartig gestaltet hat. Nach Mitternacht verlassen wir dann in Wuhan unser Schiff, um am nächsten Morgen weiter nach Beijing zu fliegen.

Welch ein Glück, nicht in Fengdu verloren gegangen zu sein und diese Fahrt dadurch verpasst zu haben.

Die Kunst des anderen Reisens

Asien 1991 – über Singapur, Hong Kong, Macao und Bangkok nach Ho Chi Minh Cityein Schnellkurs in drei Wochen

Sie erkennen sich, wie auch immer, wodurch auch immer. Es sind unangepasste Globetrotter, Reisende, die in ein Flugzeug steigen und nach der Landung gucken, was so geht und was man machen kann. Sofort, kurz nach der Mitteilung aus dem Cockpit sich abschnallen zu dürfen, finden sie sich und fangen an Infos auszutauschen über Orte, wo noch keine Touristen sind, wie man da hin kommt, günstig übernachten, exotisch essen und dazu noch unberührte Strände und abgelegene Kulturgüter entdecken kann. Alles zusammen mit einem natürlichen und ungezwungen Kontakt zu den Menschen des Landes, woraus sich wieder neue Tipps für weitere Abenteuer ergeben.

Und jetzt sitze ich neben meinem Freund Jürgen, einem dieser Nomaden (im Zivilleben nicht als solcher sofort erkennbar) im Flugzeug nach Singapur, und habe das Glück diese Art des Reisens mitzuerleben, anfangs noch erwartungsvoll angespannt, dann es immer mehr genießend. Ankunfts- und Abflugort lagen somit fest- alles weitere ergibt sich aus einer Mischung von Wünschen und Gelegenheiten und führt am Ende zu einem nicht zu erwartenden Highlight .

Asien, für mich ein langgehegtes Traumziel, unterfüttert mit viel Bücherwissen, wird wahr. Mein erstes Zusammentreffen mit diesem Kontinent nimmt mich so in Bann, dass ich nicht weiß, wo ich zuerst hingucken soll. Jürgen, asienerfahren, bewegt sich mit einheimischen Verkehrsmitteln sicher durch die Metropolen Asiens. Und ich folge ihm staunend und alles um mich herum wie ein Schwamm aufsaugend. Wir landen um 9 Uhr morgens, buchen im Flughafen ein Hotel für eine Nacht, und los geht es mit Taxi zum Hotel und weiter mit der Metro zum Singapore River, einer der bewährten „anderen“ Reiseregeln folgend: raus aus dem Flugzeug und rein in das Leben, die kurze Zeit nutzen – schlafen und ausruhen kann man nachts.

Die Umstellung auf die schwüle Hitze verlangsamt unsere Schritte nur wenig bis zur ersten Pause am Singapore River mit Blick auf die berühmte Flußansicht mit den alten Handelshäusern. Hier entdecken wir zufällig ein Plakat mit Werbung für eine Ausstellung der HAN Dynasty, ändern unseren Tagesplan (eine weitere Regel, keine festen Vorabfestlegungen, alles ist offen) und wir haben ungeahntes Glück Tickets zu bekommen. Fasziniert stehen wir dann in einer großen Halle vor den Kriegern und Pferden aus Xian – die erste Ausstellung dieser Funde außerhalb Chinas.

Die Reiterarmee von Xian

Ten, Ten, Ten hallt es über einen nur von unzähligen offenen Feuerstellen beleuchteten Platz .

Nach der ersten Erkundung dieser blitzsauberen Stadt tauchen wir bei warmer Abendluft ein in die romantische Szene der lodernden Feuer, verführerischer Gerüche und Rauchschwaden des Satay Clubs. Ten chicken, ten beef, ten mutton – ein Genuss, den kein Restaurant bieten kann – die Atmosphäre macht’s – wir essen ungezählte dieser Spieße zusammen mit eiskaltem Tiger Beer, genießen den Abend und gehen dann langsam vorbei am Merlion, dem Wahrzeichen der Stadt ins Hotel zum ersten Ausruhen nach einem langen Flug.

Satay Club Singapore

Endlich ausgeschlafen, fliegen wir mittags weiter nach Hong Kong. 3/12 Stunden später sind wir im abenteuerlichen Landeanflug auf den alten Kai Tak Airport, d. h. geradeaus bis kurz vor einen Berg, 90 Grad nach rechts und knapp über die Hochhäuser hinweg, fast die auf den Dachterrassen der Hochhäuser aufgehängte Wäsche touchierend, touch down auf die kurze Piste am Meer. Kai Tak war seinerzeit einer der gefährlichsten Flughäfen der Welt.

Kaum angekommen ein Blick zum Himmel, blauer Himmel und Sonne, das bedeutet nach den Reiseregeln, Koffer abwerfen und hoch zum Peak den phantastischen Postkartenblick über die Bucht und die Stadt zu genießen. Stunden später kommen wieder Wolken auf, es gilt den richtigen Augenblick zu erfassen.

Hong Kong, diese vibrierende, pulsierende, nie schlafende Megacity nimmt dich unmittelbar mit hinein in den ständig flutenden Strom der Menschen und Autos. Welch ein Kontrast zu Singapur – eine völlig andere Welt nur wenige Flugstunden voneinander entfernt. Und als sich abends der Hunger einstellt, leuchten Jürgens Augen, als er uns, einer weiteren Regel folgend, nicht in ein Restaurant, sondern zum Poor Man’s Night Club auf Hong Kong Island bringt. Lautes buntes Treiben openair und Feuerstellen rundherum. Sauberkeit? Hygiene? Auf den ersten Blick nicht wirklich zu erkennen. Ein erster Rundblick und ich sage spontan „hier esse ich nicht“, den Durchfall schon vor Augen. Und dann war ich es, der am nächsten Abend nur dort wieder hinwollte, leckerer kann man nicht essen und trotzdem gesund bleiben. Die alte Regel, „cook it, boil it or forget it“ war hier gesichert durch die riesigen Woks über den hellen Flammen. Nach mehreren Gängen gut gesättigt, fahren wir mit der „Star Ferry“ wieder zurück nach Kowloon und unternehmen noch einen Verdauungsbummel über einen anderen night market: Die berühmte Temple Street mit Wahrsagern, Handlesern, kleinen Bühnen mit Canton-Operaufführungen, Majong spielenden älteren Herren, schon in Schlafanzügen und Pantoffeln, unzähligen Verkaufsständen.

Poor Man’s Night Club Hong Kong Island

Spontan gebucht für den nächsten Tag hatten wir eine Fähre nach Macao, und es sollte erst losgehen, wenn eine weitere Regel für Asien eingehalten war: Toilettengang für den ganzen Tag im Hotel, und erst dann auf Tour. Wir fuhren mit dem normalen Boot zusammen mit den Einheimischen, das Schnellboot nehmen die Eiligen und Touristen. Und bald wurde mir klar warum. Kurz nach Verlassen der Hoheitsgewässer Hong Kongs gab es einen riesigen metallischen Krach auf unserer Fähre – nicht von einer Kollision, sondern von hunderten in Hong Kong verbotenen Spielautomaten ratterten die Gitter herunter, und fast alle an Bord stürzten sich an die Geräte, für einige Stunden Glücksspiel pur. Macao, das portugiesische Pachtgebiet, ist interessant zu sehen, hat aber vor allem den Las-Vegas-Flair einer Casionostadt. Das große Casino war eher langweilig, aber am Meer lag das Floating Casino, ein Abenteuer dort zu sein. Eine ganz andere Klientel hockte da, streng überwacht, an den Spieltischen, tief gebeugt über ihre uns unbekannten altchinesischen Spielkarten, diese nur dicht vor ihrem Gesicht kurz am Rand aufliftend, vor Blicken von wo auch immer sicher. Ein Feeling wie in einem Mafia Film. An den Türen auf den verfilzten Uralt-Teppichen die alten Spucknäpfe, Relikte aus früheren Dynastien, die zielsicher benutzt wurden. Nicht allzu lange können wir bleiben, von allen Seiten argwöhnisch als „Langnasen“ beäugt, eine Art diskreter Rausschmiss.

Floating Casino Macao

Und weiter geht’s nach Bangkok, wo wir nach Besichtigung der Hauptsehenswürdigkeiten zu einem kleinen, Jürgen von früher bekannten Reisebüro gehen. Wir geben unsere Pässe ab – ich glaube, die sehen wir nie wieder – und bitten den Chef des Exotissimo -Travel- Bureaus etwas für uns „off the beaten tracks“ in Indochina zu finden, Anfang der 90er für Touristen noch absolutes terra incognita.

Durch den dichten Verkehr fahren wir dann mit dem Bus an die Küste um nach Kot Samed überzusetzen, einer kleinen Insel im Golf von Thailand. Am Strand eine größere Hütte, wo wir unsere Koffer abgeben. Hier habe ich wohl zum letzten Mal dieses Unsicherheitsgefühl, z.B. mein Gepäck nie wieder zu sehen. Diese andere Art zu reisen war zunehmend Teil meines Verständnisses von „Reisen“ geworden. Wir steigen in ein kleines Boot zu einer Insel ohne Tourismus zur absoluten Stranderholung. Am Landesteg werden wir mit einer Kreidetafel begrüßt von dem stolzen Besitzers seines ersten Cellphones, über das unsere Hütten erstmal gebucht werden konnten. Eine traumhafte Zeit, etwas gewöhnungsbedürftig nur das Schlafen auf Bambuspritschen. Das schönste Erlebnis kam am nächsten Morgen. Die Inselbewohner auf unserer Seite der Insel, die Frauen in ihren bunten Kleidern, gingen zum Sonnenaufgang ins Meer; und wir standen mit ihnen bis zum Hals im warmen Wasser, der frühen Sonne entgegen blinzelnd. Ein letztes Paradies, aber leider auch schon gefährdet: An unserem letzten Tag legte ein erstes Boot mit Tagestouristen aus Bangkok an…

Der Pineapple Beach von Koh Samed

Zurück in Bangkok sah uns der Chef des Reisebüros schon kommen und winkte mit unseren Pässen. Strahlend übers ganze Gesicht verkündete er uns die totale Überraschung, dass wir mit zu den allerersten Ausländern gehören, die nach dem Vietnamkrieg ins Land kommen können. Stolz überreicht er uns ein Dreitagesvisum und Ticket für Ho Chi Minh City (Saigon). Wir können es kaum glauben und haben auch nicht mehr viel Zeit bis zum Abflug. Wir geben unser Gepäck im „left luggage“ ab und fliegen nur mit dem Nötigsten ab.

Wir werden von unserem Führer, einem linientreuen verdienten Mitglied der KP Vietnams, abgeholt und in ein Hotel gebracht. Schon während der Fahrt erhalten wir klare Anweisungen über das Programm und eine Karte, auf der die Stadtteile markiert sind, in die wir nicht dürfen. Jahre nach Ende des Vietnamkrieges öffnet sich Vietnam vorsichtig, und man fühlt sich weit zurückversetzt in der Zeit.

Nach einer, garantiert nicht der letzten, lukullinarischen Kostprobe in Saigon lassen wir uns mit Tricyclen durch Saigon fahren.

Tricycle Taxi in Saigon

Auf den Strassen wimmelt es von Fahrrädern, Mofas, Rikschas, nur vereinzelten Autos und den Menschen, die in ständiger Bewegung sind. Erschreckend, wie dünn und ausgezehrt viele sind. Aber alles funktioniert ohne Unfälle in diesem Verkehrsgewühl ohne erkennbare Regeln. Und dann tauchen wir ein in die Schrecken des Vietnamkrieges. Vorbei an ausgebrannten Panzern, auf denen Kinder spielen, und abgeschossenen Helikoptern gehen wir ins Kriegsmuseum. Die Fotos der Opfer von Napalmbomben und die als Folge von Agent Orange entstellten Föten in Glascontainern lassen uns erstarren. Was wir dort sehen, ist kaum zu ertragen und wirkt noch lange nach.


Am nächsten Tag fahren wir mit unserem Führer über Land vorbei an malerischen Reisfeldern und tausenden von Enten, die in Lastwagen herangefahren werden und sich in die unter Wasser stehenden Reisfelder zur natürlichen Schädlingsbekämpfung stürzen. Unser Ziel sind die berühmten Tunnelanlagen von Chu Chi, deren Eingänge so gut getarnt sind, dass wir sie trotz intensiver Suche nicht finden können. Sie werden gerade für Besichtigungen hergerichtet, und es ist ein beklemmendes Gefühl in einen solchen Tunnel hineinzukriechen. Die Gänge in drei Etagen hielten in Kriegszeiten alles vor, was die Vietcong brauchten; auch Küchen, deren Rauch zur Ablenkung so geleitet wurde, dass er erst Kilometer entfernt auftauchte. Absurd allerdings war wohl ein als Devisenbringer eingerichteter Schießstand, betreut von teilamputierten „Vietcong“, um dort mit den alten Waffen der Vietcong zu schießen. Wir lehnen das Angebot höflich ab. Auf dem Rückweg fahren wir an der amerikanischen Botschaft vorbei, wo in Panik die letzten amerikanischen Soldaten und Botschaftsangehörigen in Hubschraubern vom Dach aus knapp vor den einrückenden nordvietnamesischen Truppen entkommen waren. Und auf den Straßen in Saigon immer die Konfrontation mit den Opfern der amerikanischen Bombardements: An Armen und/oder Beinen amputierte Kriegsversehrte, die sich mit ihren verbliebenen Knochenstümpfen, auf Pappkartons kauernd, mühsam einen Weg durch die Menge bahnen, um ein kleines Almosen betteln…

Die unsichtbaren Tunneleingänge



Mutige Entschiedenheit Außergewöhnliches zu tun, wenn es plötzlich möglich ist, erlebte ich als ein weiteres Merkmal des anderen Reisens. Besondere Orte zur richtigen Zeit zu erleben, kleine Zeitfenster, die oft ruckzuck wieder zu sind. Solch ein besonderes Erlebnis erschließt sich uns auf dieser Reise.

Nur wenige Stunden bleiben uns heute noch in Ho Chi Minh City, und wir entwischen durch den Lieferanteneingang unserem Führer, mieten eine Tricycle, und der Fahrer fährt uns in verbotene Bezirke, zu Kellergewölben, wo ehemals Kunstschätze aus Tempeln versteckt waren, und zu einem Markt, aus dessen Labyrinth wir alleine wohl nur sehr mühsam wieder herausgefunden hätten. Er hatte nicht draußen gewartet, sondern uns begleitet, zunächst unbemerkt, an zwei Stellen gesagt weiter zu gehen und uns so die Sicherheit gebend, diesen Ausreißer-Trip zu genießen, um dann mit etwas schlechtem Gewissen zu unserem „Aufpasser“ zurückzukehren. Die leichte Panik wich nur langsam aus dessen Gesicht, als er uns ankommen sah. Zur Versöhnung luden wir ihn am Abend zu einer „dinner cruise“ auf dem Saigon River ein. Eine winzige Küche im Unterdeck, in der schweissgebadete Köche frisch gefangene Meeresfrüchte für uns im Wok zubereiteten, während wir im Oberdeck einen Blick auf die am Kai liegenden Transportboote blicken konnten; entladen wurden sie nicht etwa mit Kränen, sondern von Kulis, die auf schwankenden Planken zentnerschwere Reissäcke auf ihren Schultern balancierten…
Vietnam 1991, welch ein Erlebnis zum Ende einer Asien-Reise, die mich für zukünftiges Reisen prägte.

(Fotos B.Mielke, J. Steinmeyer)

Die große Migration

Safari in Tansania, Februar 2016

Unsere Begegnung mit der Serengeti („die Unendlichkeit“ wie uns Fahrer Steven den Namen übersetzt) beginnt mit einem Knall: Kurz nach der Einfahrt in den Nationalpark stoßen wir auf eines der faszinierendsten Ereignisse, denen man hier begegnen kann: die „Great Migration“, die große Gnu-Wanderung, die jedes Jahr im Februar/März beginnt. Mehr als 1,7 Millionen Gnus, 250.000 Zebras und noch mal so viele verschiedene Gazellen-Arten sind gemeinsam unterwegs.

Unterwegs sein heißt für sie: den ganzen Tag Rennen, Rennen, Rennen, und am frühen Abend Ausschwärmen in die ganze Ebene zum Fressen, Fressen, Fressen für die Strecke des kommenden Tages, und in dieser Zeit muss alles passieren, was Erholung und neue Kraft bringt auf dem Weg aus dem bereits von der Sonne versengten in die noch frischen Grasflächen und nördlichen Wasserstellen, immer auf der Hut vor den bereits auf sie wartenden Raubtiere, die ihrerseits ums tägliche Überleben kämpfen.

Wir wollen dieses Schauspiel noch ewig genießen, aber wir müssen weiter, denn es beginnt zu dämmern und die Lodge wartet. Dort tauschen wir uns mit den anderen Gruppen aus und genießen dieses unerwartete Erlebnis bei kühlem Serengeti-Bier, nicht ahnend, was die nächsten Tage noch bringen würden.

The great Migration

Während der nächsten Tage fährt uns Steven auf roten, holperigen Sandpisten mit Tempo 30 durch die einzigartige Landschaft. Es gibt nur wenige Plätze auf der Welt, wo die Savanne solch einer Fülle an unterschiedlichsten Tieren als Lebensraum dient. Giraffen, Elefantenherden, kleine und große Wildtiere, Löwenfamilien direkt neben uns, Leoparden und unzählige bunte Vögel in allen Größen. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus. Und dann stoppt unser Fahrer plötzlich, und während wir in alle Richtungen gucken, auf der Suche nach einem der Big Five, zeigt er uns mitten auf der Piste einen kleinen Pillendreher, der eine für ihn riesige Kugel rückwärts über die Piste rollt, in die später ein Skarabäus-Weibchen ihre Eier legen wird.

Welch ein Kontrast zu unseren Erwartungen!

Wo wir nur Bäume sehen, zeigt uns Steven Löwen und Leoparden in Bäumen liegend, die wegen vorangegangener Regenfälle ihre Fußsohlen trocknen, er sagte voraus, dass sich ein Vogelstrauß gleich im heißen Sand „entlausen“ würde und so geht es weiter… Und das zeigt uns, was das wichtigste auf einer Safari ist – ein guter Fahrer und Führer, der die Fauna und Flora seines Landes kennt und in ihrer Gesamtheit lebt und so einen besonderen Blick in die Natur hat. Von ihm erfahren wir dann auch, dass es neben den „Big Five“ auch die “Little Five“ gibt, die nach den fünf großen Brüdern benannt wurden: Leopard Tortoise, Buffalo Weaver, Rhino Beetle, Elephant Shrew und Ant Lion.

Ohne die kleinen Lebewesen gäbe es die großen nicht, so ist der Gang der Natur. Steven zeigte uns an anderer Stelle eine Kolonie Geier bei einem Kadaver. Nacheinander setzen so unterschiedliche Tiere, große und kleine, ihre Werkzeuge ein, um ihre Aufgaben in diesem Prozess des Werdens und Vergehens auszufüllen.

Zwei Tage und viele begeisternde Erlebnisse später machen wir uns auf den Weg, die Serengeti wieder zu verlassen, denn der berühmte Ngorongoro-Krater ist unser nächstes Ziel. Aber es wartete noch eine Überraschung auf uns. Wir treffen ohne Vorankündigung ein 2. Mal auf den Zug der Tiere. Unglaublich! Steven hatte sich mit anderen Guides ausgetauscht und erfahren, wohin die Tiere weiter gezogen sind.

Wir sehen sie wieder! Noch in einiger Entfernung laufen Tausenden von Gnus, einige Zebras dazwischen, als dunkle Masse von schwerfälligen Leibern, denen wir immer näher kommen. Unmittelbar vor uns kreuzt dann der Zug unsere Piste, und wir haben Zeit dieses Schauspiel zu genießen. Die Tiere trotten in einer schier unendlich scheinenden Reihe vor sich hin, um dann unvermittelt für eine Weile loszurennen. Irgendetwas löst bei einem einzelnen Gnu diese Reaktion aus, und der Herdentrieb setzt dann alle in Bewegung.

Für ein Picknick halten wir mittags im Schatten einer großen Schirmakazie und erleben dabei einen lebendig gewordenen Traum. Ringsum in jeder Himmelsrichtung bis zum Horizont sind hunderttausende, ja vielleicht Millionen Tiere zu sehen, die nach Norden streben

Tansania Reise&Informationsportal Karte der Migration

Anfang und Ende des Zuges sind nicht mehr zu erkennen, die Reihe der Tiere erstreckt sich von Horizont zu Horizont, wie eine Urgewalt und wir stehen mittendrin. und Steven meint nur „You are very very lucky to be able to see this“.

Der Motor startet, und unser Fahrer bahnt sich vorsichtig einen Weg durch die Masse der wandernden Tiere und tritt die Reise zum Ngorongoro-Krater an, vorbei am Gedenkstein für Michael Grzimek. Aber eigentlich wissen wir, dass nichts auf dieser Reise auch nur annähend eindrucksvoll sein konnte, wie die Migration. Das muss der Höhepunkt gewesen sein, alles andere war nur Bonus. Und so startete unsere Fahrt in den Krater bei Nieselregen und Bodennebel, der sich aber schnell mit den ersten Sonnenstrahlen auflöste. Und plötzlich stehen wir vor einem der letzten 50 verbliebenen Spitzmaulnashörnern in Tansania.

Und als ob dies noch nicht genug Safariglück gewesen wäre, erleben wir noch das für mich emotionalste Ereignis dieser Reise am Ausgang des Kraters. Wieder stoppt der Wagen plötzlich und dann wird uns klar warum. Wir stehen nur wenige Meter von einem Gnu entfernt und Steven sagt uns, dass die Geburt des Kalbs unmittelbar bevorstehe, ja tatsächlich in weniger als 10 Minuten beginnen würde. Niemand von uns hätte dies bemerkt. Während die anderen Tiere weiterlaufen, legt sich die Gnu- Kuh nieder, mehrere männliche Gnus bleiben wie eine Schutzwache neben ihr stehen. Dann sehen auch wir die stärker werdenden Wehen. Mehrmals steht sie wieder auf, wechselt die Position, legt sich wieder nieder und dann beginnt die Geburt.

Ein Moment vollkommener Stille tritt ein, ein kurzer Moment ohne jedes Klicken eines Fotoapparates, völlige Faszination und Ergriffenheit angesichts dieses Wunders des neuen Lebens, so normal und selbstverständlich und dennoch berührend die Verletzlichkeit in der Natur und Geborgenheit in der Herde.

Mich hat dieses Erleben der Geburt so ergriffen, das ich ganz gegen mein übliches Fotoverhalten während des gesamten Geburtsablaufs kein einziges Bild machte und dies erst bemerkte, als alles vorbei war. Wie schön, dass mein Freund Jörg, sonst überwiegend zuständig für die Teleaufnahmen, diese Nahaufnahmen für mich mit übernommen hat.

Geboren

Das Neugeborene fällt heraus auf den Boden, es strampelt sich aus der Hülle der Fruchtblase wird freigeleckt und angestubst, und das heißt: Aufstehen, auf die eigenen Beine kommen, umfallen, wieder angestubst, aufstehen und mit stakeligen Beinen nochmals umfallen, wieder aufstehen und trinken und dann dreht sich die Mutter um und läuft weiter, und das Junge muss mitlaufen, um zu überleben. Die Geburt muss schnell über die Bühne gehen, das neugeborene Gnu muss sofort versuchen auf die Beine zu kommen, um dann mit der Mutter im Schutz der Herde mitzulaufen, denn diese wird schon umkreist von auf Beute lauernden Hyänen und anderen hungrigen Jägern.

Nichts ist eine leichtere Beute als ein Neugeborenes.

Aufstehen
Schnell trinken
Auf geht’s
Auf der Jagd

Und während wir die Geburt erlebt haben, erfahren wir am Abend von der zweiten Gruppe von der Jagd auf und dem Tod eines anderen neugeborenen Gnus. Geburt und Tod, Fressen und Gefressen werden, als natürlicher Ablauf des Lebens, findet hier zu jeder Zeit statt.

Dieses unmittelbare Erleben der Größe und des Wunders der Natur und der Erkenntnis, dass alles miteinander zusammenhängt, relativiert den Glauben an die menschlichen Überlegenheit und führt zurück zu der Erkenntnis, dass wir nur ein Teil dieses Kosmos sind, nur ein Teil des Werdens und Vergehens, während die Welt davon unberührt sich weiter dreht. Nur, dass der Mensch die Fähigkeit hat zu denken und sich zu entscheiden zwischen den Möglichkeiten im Einklang mit der Natur zu leben oder sich alles unterzuordnen und damit die Natur, unseren Lebensraum und unsere Zukunft zu zerstören.

(Fotos: B. Mielke, J. Neidig)

Ost-West-Nord-Süd

Deutschland und Vietnam – eine Reise mit Thomas Billhardt

(2019)

Vietnam Halong-Bucht 2019. Es ist eine warme, sommerliche Nacht. Auf dem Wasser spiegeln sich die Lichter anderer Boote, die wie wir an diesem romantischen Ort für die Nacht vor Anker gegangen sind. Schemenhaft sieht man die für die Bucht charakteristischen kegelartig geformten und bewaldeten Kalksteininseln.

Nach einem erlebnisreichen Tag in dieser traumhaft schönen Umgebung sitzen wir an Deck mit einem Glas Wein und sprechen über diese Bucht und wie sie vor Jahren ohne viele Besucher vielleicht noch schöner gewesen sein mag. Und dann fällt der Satz: „Jetzt sitzen wir hier und und sprechen ganz normal miteinander“. Nach einem kurzen Schweigen stoßen wir an und wissen, dass in diesem Satz all das zusammenfließt und auf den Punkt gebracht ist, was uns Beide hierher geführt hat. Der einladende Reise-Flyer, der am Ende einer Tagung im Rosa-Luxemburg-Haus unser Interesse geweckt hatte, die Ankündigung der Mitreise und Kommentierung der Fahrt durch Thomas Billhardt, ehemaliger DDR-Fotograf und Zeitzeuge des Vietnamkriegs; auch wenn wir von diesem in weiten Teilen der Welt bekannten und geschätzten Fotografen noch nie gehört hatten, versprachen wir uns davon eine kundige Reisebegleitung und vielseitige Einblicke in das heutige Leben im damaligen Nord-Vietnam. Und so war es dann auch. Unsere erste Begegnung mit Thomas Billhardt musste aber noch warten, er war schon vorgeflogen und empfing uns in Hanoi.

Berühmt geworden war Billhardt für seine Berichte aus Kuba und seine Präsenz während des Vietnamkrieges. Der gesamte Westen, in dem wir groß geworden sind, kannte unausweichlich das Bild des Fotografen Nick Út (The terror of War), das brennende, nackte, vor Schmerzen schreiende kleine Mädchen auf der Flucht vor weiteren amerikanischen Napalm Bomben. Die bildgewordene Anklage gegen den Krieg in Vietnam. Niemand von uns aber kannte das Foto „Liebe im Krieg“ von Thomas Billhardt, ein Soldatenliebespaar mit geschulterten Gewehren, händchenhaltend auf einen See zugehend. Auf der einen Seite der Schrecken und auf der andern Seite inmitten der täglich Gräuel und des Sterbens die Liebe und die Hoffnung auf eine Zukunft ohne Krieg.

Das Bild „Liebe im Krieg“ – gefunden in einem Laden in Hanoi

Es war also gar kein Zufall, dass die Reisegruppe außer meiner Reisegefährtin und mir ausschließlich aus Mitreisenden aus dem Osten Deutschlands bestand, denen natürlich ein Thomas Billhardt ein Begriff war, ebenso wie auch Verbindungen mit Nord-Vietnam. Uns war es erst so nach und nach klar geworden, dass dies eine für uns nicht übliche Buchung war: bei einem Reisebüro aus der ehemaligen DDR, die exklusive Leserreise des „Neuen Deutschlands“, die Anreise mit Abflug von Berlin Schöneberg mit Aeroflot über Moskau nach Hanoi. Bei jedem Mitreisenden, mit dem wir ins Gespräch kamen, wurde klarer, dass sie alle in der ehemaligen DDR groß geworden waren und bis heute dort lebten, und wir dennoch gemeinsam Reisende waren, die in diesem Augenblick des selbstverständlichen Beieinandersitzens in der Halong -Bucht realisierten, wie wenig selbstverständlich diese Gemeinsamkeit über lange Zeit gewesen war, auch lange nach dem Mauerfall noch. Und diese Feststellung der Normalität geschah am 5. Abend unserer gemeinsamen Reise, und es entwickelte sich eine große Offenheit und Interesse füreinander.

Das zentrale Erlebnis dieser Reise von Nord nach Süd in Vietnam war unser Reisebegleiter. Täglich hörten wir von ihm Geschichten über seinen abenteuerlichen und oft lebensgefärdenden Einsatz als Fotograf in Hanoi. Und er hatte wegen der Vorbereitung einer Ausstellung mit dem Goethe-Institut in Hanoi seine Fotobücher bei sich, die diese schwierige Zeit der Bombardierung Hanois dokumentierten. Besonders nahe gingen die Bilder kleiner Jungen, die unter den Kanaldeckeln Schutz suchten. Die ergreifenden Schilderungen waren auch deshalb so beeindruckend, da sie aus eigenem direkten Erleben völlig ohne irgendeinen Hauch von Ideologie erzählt wurden, als Schilderung des menschlichen Lebens in dieser Zeit in Nordvietnam, von dem wir wenig wussten. Ebenso fesselte auch seine eigene Lebensgeschichte, die ihn zu einem Wanderer zwischen den Welten Ost und West machte. Für die Regierung der DDR war er als Fotograf nach Kuba geschickt worden und, was damals nicht alle für sicher hielten, er verschwand nicht bei einer Zwischenlandung in Kanada, sondern kehrte in die DDR zurück. Fortan hatte er die Möglichkeit zu jeder Zeit auch in den Westen zu kommen. Er galt nun als „zuverlässig“ und seine Berühmtheit – gefördert durch seine Berufung als Kinderfotograf der UNICEF – machte ihn ziemlich unangreifbar. Bis er kurz vor Ende der DDR in Gefahr geriet sein Fotoarchiv zu verlieren, das er aber auf abenteuerliche Weise doch noch rechtzeitig in Sicherheit hatte bringen können.

Ost-West-Kontraste aus alten Zeiten und ihre Fortsetzungsgeschichten traten auf dieser Reise immer wieder auf. Zwei vietnamesische Reiseführer, beide mit Deutschlanderfahrungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, zwei Welten. Der Reiseführer der ersten Woche hatte in der DDR Maschinenbau studiert, während zu Hause der Krieg tobte, nicht ganz ohne schlechtes Gewissen, aber mit einer Treue gegenüber alten wirtschaftlichen Kontakten und Wissenstransfer; der Andere als ehemaliger Flüchtling, illegal in Westdeutschland, in ständiger Angst von der Polizei ohne Papiere aufgestöbert zu werden und nach Hause abgeschoben, was ihm tatsächlich nicht erspart blieb. Gerne würde er seine deutschen Freunde noch einmal besuchen, mit denen er bis heute in Kontakt ist, aber in Deutschland leben würde er nicht mehr wollen. Im heutigen sich öffnenden und entwickelnden Vietnam sieht er sein Zuhause.

Und so zogen wir durch das Land von Nord nach Süd mit einem ununterbrochen fotografierenden Reisebegleiter, der am Abend dann schon mit der Löschung der weniger gelungenen Bilder begann. Wir erfuhren von seiner ersten Ausstellung in Hanoi mit großen Bildtafeln im Freien, und Billhardt berichtete, dass viele dorthin kamen, die auf den Bildern abgelichtet waren und den Krieg überlebt hatten. Wir entdeckten Hanoi anders als bei einer üblichen touristischen Reise, fuhren mit Fahrrädern durch Reisfelder in ein kleines Dorf, um unter Anleitung der Dorfbewohner vietnamesisch zu kochen, besuchten eine Vorstellung im berühmten Lotus Wassertheater, lernten die Kultur der Cham kennen, das Abenteuer einer nächtliche Zugreise in den Süden zur alten Kaiserstadt Hué, weiter nach Danang und zu der für mich wohl schönsten Stadt Hoi An, der Stadt der tausend Laternen.

An einem der letzten Abende wurden die Erzählungen fortgesetzt, ost-westdeutsche Biografien ausgetauscht sowie die Nord-Süd Erfahrungen betreffend Vietnam. Und es sind mehr als zwei Deutschlands, die dabei sichtbar werden.

Aus dieser Reise entwickelte sich eine Freundschaft zwischen Thomas Billhardt und uns, und gerade schickt er mir seinen neu erschienenen Bildband „Hanoi 1967 -1975“, initiiert und unterstützt vom Goethe-Institut Vietnam und publiziert von Nhã Nam/Vietnam 2020, Krönung seines Lebenswerks.

ISBN 978-604-77-8377-9

Gorilla Begegnungen

Fast 50 Jahre ist es her, dass ein Bekannter mir erzählte, er habe einige Jahre zuvor ein Gorillababy für einen Zoo bei sich zu Hause aufgezogen. Er lud mich ein, gemeinsam seinen ehemaligen Zögling im Zoo zu besuchen. Schon als wir den Gang zum Gehege betraten, stieß der Gorilla die ersten leisen Freudenschreie aus. Er witterte sofort seinen Ziehvater. Das beeindruckte mich sehr, da dieser ja längere Zeit nicht zu Besuch gewesen war. Meine Begeisterung wich dann aber schnell einem gewissen Angstgefühl, als das Gehege aufgeschlossen wurde und der Ziehvater mich einfach mit in den Käfig hinein nahm. Der Gorilla, inzwischen zu stattlicher Größe herangewachsen, umarmte seinen Besucher glücklich und aufgeregt, blickte dann nach links zu mir und nahm mich ebenfalls in den Arm, ohne mich zu erdrücken. Mein Herzschlag setzte kurz aus, aber dann war es ein einmaliges Gefühl in der herzlichen Verbundenheit zwischen Mensch und Tier.

Und nun stand ich diesen großartigen Gorillas in freier Natur gegenüber.

Neun Tage sind wir bereits durch Uganda gefahren, immer im Hinterkopf an den Tag X denkend: Wird es regnen? Werden wir die Gorillas sehen…? Bis kurz vor unserer Ankunft in Entebbe hat es sintflutartige Regenfälle und Überschwemmungen gegeben. Seitdem sind die Hochwasser zurückgegangen und die Regenfälle seltener und kürzer. Das lässt hoffen. Wir können wieder auf den vorgeplanten Routen fahren, die Tage zuvor noch unpassierbar waren. Morgen werden wir zum Bwindi Nationalpark kommen, in dem mehrere Gorillafamilien leben. Die Spannung steigt, und trotz einiger Schlaftrunks wird es eine etwas unruhige Nacht voller Erwartung, Vorfreude und restlicher Ungewissheit, ob das Wetter mitspielen wird. Es hat gestern fast den ganzen Tag geregnet, heute aber scheint die Sonne, die langsam den Nebel verdrängt. Wir haben Glück. Aber der Boden ist noch feucht. Und dann beginnt das Abenteuer. Wir treffen die Ranger und Porter, müssen unsere Pässe abgeben und werden einer Gruppe zugeteilt. Maximal acht Personen gehören zu einer Gruppe. Bevor es losgeht, erhalten wir noch ausreichend Informationen über Sicherheitsvorschriften und Verhaltensregeln während der Suche nach den Gorillas und bei der Begegnung mit ihnen. In einem langen Habitationsprozess hat man die Bergorillafamilien an kurze einstündige Besuche gewöhnt. Dies ist die maximal erlaubte Zeit. Es gibt fünf Familien in diesem Park, und wir werden versuchen eine davon, die Bweza Familie, zu finden. Die Rangerin erklärt uns, dass die Familie von den Scouts in einer bestimmten Gegend gesichtet wurde, und wir also ungefähr wissen, wo sie sich aufhalten. Ich nehme mir einen Porter als helfende Hand. Dies sind junge Männer aus der Gegend, die sich auf diese Weise etwas Geld zum Leben dazu verdienen. Jedem von uns wird großer stabiler Stock noch zur Unterstützung mitgegeben, und auf geht’s. Voller Energie brechen wir auf, und es verspricht kein besonders schwieriger Weg zu werden, mit herrlichen Ausblicken auf das umliegende Panorama des Bergregenwaldes.

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Dann biegt unsere Rangerin links ab, und von da ab geht es steil bergauf durch dichtes Unterholz. Wir folgen den Guides, die mit den Macheten einen Pfad durch den Bergregenwald schlagen – immer mit einer Seite nah am Hang und rechts den Abgrund vor Augen. Wir sind inzwischen auf über 2000 Metern Höhe. Seit mehr als zwei Stunden geht es durch dichten Dschungel, über rutschiges, feuchtes Wurzelwerk, Dornenbüsche streifend, manches Mal in Lianen verheddert oder durch versteckte Senken strauchelnd. An manchen Stellen müssen wir recht steile Hänge hinaufklettern, immer in Gefahr abzurutschen oder uns zu verletzen.

Auf einmal spielt alles eine Rolle. Der Aufstieg bringt uns an unsere Grenzen. Jeder Ausrutscher und jedes Straucheln kostet Kraft und nur der Gedanke an die Gorillas lässt uns stur weiterlaufen, keuchend und mit starrem Blick auf das unwegsame Gelände vor uns. Kurze Pausen sind immer wieder nötig, und einer von und scheint fast zu kollabieren, so dass wir etwas länger verharren. Konditionell bin ich gut dabei, aber aber der feuchte und glitschige Boden erfordert volle Konzentration bei jedem Schritt. Mehrmals verdanke ich nur meinem Porter, dass alles gut geht. Von täglichen Verletzten und dem „Uganda Helikopter“ (acht sich abwechselnde Porter mit Trage) hören wir zum Glück erst nachher von Moses, unserem Fahrer. Der Aufstieg und die Suche werden immer beschwerlicher.

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Doch dann kehren die Lebensgeister schlagartig zurück. Durch die volle Konzentration bei jedem Schritt des steilen Aufstiegs und am Rande der Erschöpfung, gelangen plötzlich Geräusche an unsere Ohren. Ich bin wie elektrisiert. „Da müssen sie sein“ zeigt mein Porter weiter  nach oben. 

Letzte Energien werden jetzt mobilisiert, denn wir wollen die Berggorillas sehen, was nicht immer garantiert ist.

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Tatsächlich zurückgelegter Weg auf der Suche nach „unserer“ Gorilla-Familie (GPS)

Noch müssen wir eine Weile kreuz und quer weiter aufsteigen, dann das Stoppzeichen unserer Rangerin, und sie zeigt uns die ersten Mitglieder unserer Gorillafamilie hoch vor uns auf den Bäumen.

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Welch ein Anblick!
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Wie weggeblasen die Strapazen des Aufstiegs, und die Euphorie ist zurück, darf sich aber nicht äußern: Schweigen ist angesagt bei dieser Begegnung von Mensch und Tier in freier Natur. Eine Stunde haben wir nun Zeit die Bweza Gruppe zu beobachten. Ein tiefgehendes emotionales Erlebnis.

Wir gehen weiter, um näher an die Gruppe heranzukommen. Hinter einer Wegbiegung stoppt unsere Rangerin, und unvermittelt sehen wir uns einer Mutter mit zwei Jungtieren gegenüber. Ich frage leise: „Was nun?“ Sie zuckt mit der Schulter und beobachtet die Mutter voll konzentriert. Dann Entspannung. Das Muttertier dreht sich zur Seite, greift nach einem Ast und fängt an mit Genuss Blätter zu fressen.

Und die kleinen Gorillas verhalten sich wie alle Kinder, kommen munter und unbesorgt purzelbäumend auf uns zugerollt bis vor unsere Füße.

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So nah dürfen sie uns aber nicht kommen wegen der Infektionsgefahr. Nach einem kleinen Klaps mit der Seite der Machete ziehen sie sich beleidigt auf einen Baum zurück.

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Nach diesem erst spannenden und dann heiteren Erlebnis gehen wir weiter und treffen auf die gesamte Familie in einer Senke einige Meter unter uns.

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Zentraler Mittelpunkt: der Silberrücken
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Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist 1-1-13-683x1024.jpgFressen und spielen sind die Hauptbeschäftigungen der Kleinen, am liebsten auf dem breiten Silberrücken.

Eine Stunde haben wir jetzt Zeit die Gorillas zu beobachten, eine Zeit, die wie im Fluge vergeht. Nach dem langen Aufstieg, aus unserer Sicht viel zu schnell, gibt die Rangerin das Zeichen zum Aufbruch. Doch dann bleibt sie plötzlich stehen und sieht etwas, was sie selbst trotz vieler Jahre im Park noch nicht erlebt hat: zwei Teenager machen ihre ersten, noch ungeschickten und vergeblichen Liebesversuche. Sie filmt dieses Ereignis ausgiebig, und so können wir noch eine Weile länger bleiben.

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Erfüllt und glücklich kommt die Realität des zwar kürzeren, aber nicht minder gefährlichen Abstiegs in unser Bewusstsein. Mit leichten Prellungen, Zerrungen und Dornenspuren erreichen wir, ansonsten unverletzt, unseren Ausgangspunkt im Bwindi Nationalpark.

Dort verabschieden wir uns von unseren Portern, ohne die wir dieses Abenteuer nicht geschafft hätten, und erhalten unser Gorilla-Trecking-Diplom. Als ich für das Diplom aufgerufen werde, fangen alle an zu klatschen. Die Ranger hatten wohl in meinem Pass mein Geburtsdatum gelesen, und ich soll der bisher älteste Teilnehmer bei diesem Trekking gewesen sein. Erstaunt und etwas gerührt bedanke ich mich, behandele noch kurz mit Hilfe meines Notfallpäckchens einen Ranger, der sich mit der Machete tief geschnitten hatte. Zurück ging’s dann ins Traveller’s Rest, der Lodge,  in der auch Dian Fossey damals gewohnt hatte.

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Der nächste Tag dient der Erholung, und wir nehmen das Angebot einer “Relaxing after Gorilla Massage“ dankbar an.

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Erst nach dieser Entspannung wurde mir richtig klar, welches Glück wir gehabt hatten mit diesem einmaligen Erlebnis der Begegnung mit der Bweza-Gruppe. Es gibt Ereignisse, wie auch vor vielen Jahren meine erste Gorillabegegnung, die nur schwer in Worte zu fassen sind.

Vor und nach der Gorillabegegnung sind wir mit insgesamt 2600 km eine große Runde durch ein schönes Land gefahren, ein Land das aber leider dabei ist seine Naturparks aus wirtschaftlichen Gründen zu zerstören. Hoffen wir auf eine Wende zu nachhaltiger Sicherung der Grundbedürfnisse der Menschen und Tiere, auf die Rettung einer einzigartigen Natur und darauf, dass noch für viele Menschen dieses Naturerlebnis in Zukunft erhalten bleibt.

(Fotos B.Mielke, J.Neidig)

St.Pierre et Miquelon -wie alles anfing

(2011)

Zwei Alumünzen mit der Aufschrift „St.Pierre et Miquelon“ hatte ich in der Hand beim Durchwühlen einer Kiste mit Münzen aus aller Welt in einem kleinen Amsterdamer Touristenladen. Offensichtlich französisch: 1 und 2 Francs.

Aus eigener Sammlung

Es war in den Mitfünfzigern und ich vielleicht 12 Jahre alt – eine Zeit ohne Internet, Wikipedia und Google. Neben anderen kleinen Münzen, deren Schrift ich nicht lesen konnte, nahm ich diese beiden Alumünzen mit nach Hause – für wenig Geld, denn es gab auch noch keine detaillierten Münzkataloge mit Preisangaben. Meine Neugier war geweckt! Seit einigen Jahren sammelte ich erst Briefmarken, tauschte dann die Briefmarken mit meinem Bruder gegen dessen Münzen ein und erschloss mir so nach und nach die ferne, lockende Welt. Niemand, weder mein Erdkunde- noch der Französischlehrer, konnten mit diesem Ländernamen etwas anfangen. Dabei blieb es zunächst, bis ich auf einen alten Briefmarkenkatalog der Gebrüder Senf stieß, der alle auch noch so kleinen Winkel dieser Welt aufführte, wo je eine Briefmarke erschienen war.

Hier fand ich schließlich St. Pierre et Miquelon, eine Inselgruppe 25 km östlich der kanadischen Küste und südlich von Neufundland. Es ist französisches Überseegebiet, gehört heute somit auch zur EU, und es ist alles, was von der früheren französischen Kolonie Neufrankreich bis heute übrig blieb. Und es ist der westlichste Punkt Europas.

Für heutige jüngere Leser_innen ist dieser Suchprozess (heute Recherche genannt) kaum nachvollziehbar. So eine Frage klärt man heute in Minutenschnelle über Google.

In der Folge suchte ich weiter nach exotischen Münzen, versuchte Inschriften zu entziffern und mich über andere Länder zu informieren. Eines blieb immer im Hintergrund: ich wollte einmal im Leben nach St.Pierre et Miquelon.

Schon früh wurde meine Sehnsucht andere Länder kennenzulernen durch meine reiselustige Mutter weiter forciert. Mit einem Käfer und Zeltausrüstung auf dem Dachgepäckträger zog sie mit uns Kindern los, und oft war auch der eine oder andere Freund dabei, in immer weiter entfernte Orte. Über die niederländische und belgische Nordseeküste und dann in den warmen Süden durch Frankreich nach Italien bis Rom. Im Winter ging es mit dem deutschen Alpenverein nach Österreich und in die Dolomiten zum Skilaufen. Der deutsche Drang nach Süden zu Wärme, Palmen und blauem Meer wurde nach den langen Kriegsjahren und den folgenden nicht leichten Aufbaujahren immer stärker.

Das waren für mich lässige Ferien am Strand und sportliche in den Bergen. Doch unvermeidlich in Italien waren auch die ersten Begegnungen mit Kultur, den Interessen meiner Mutter und älteren Geschwistern folgend, mit Museumsbesuchen und Kathedralen und der Begegnung mit dem alten Rom. Dazu kamen immer mehr persönliche Begegnungen mit Menschen bis hin zu familiären Kontakten. Das war so richtig etwas für mich und mein Interesse am Anderen.

Aber es sollte noch lange dauern, bis ich die fernen Ziele in Asien, Amerika und Afrika erreichte, die ich schon über erste Fantasien, ausgehend von neuen Münzen, kennengelernt hatte.

Und dann war es fast so weit, endlich nach St. Pierre et Miquelon zu kommen.

Wegen einer schon lange bestehend intensiven Familienfreundschaft in Seattle begannen viele Reisen dorthin, mit unterschiedlichen Vor-bzw. Nachprogrammen.

1996 fuhr ich, inzwischen mit eigenen Kindern, von NewYork nach Seattle und über den Transcanada Highway zurück an die Atlantikküste mit dem Ziel, am Ende nach St.Pierre et Miquelon zu kommen. Es blieben nur wenige Tage bis zum Rückflug, und dann, welch eine Enttäuschung! Sturm über dem Atlantik und keine Garantie mit dem Schiff rechtzeitig wieder zurückzukommen. Ein Wunsch, der nicht in Erfüllung ging.

Erst viel später, im Jahr 2011, anlässlich eines Kongresses in Toronto, blieb dann endlich genug Zeit nach Neufundland zu fliegen und dort eine 3-Tage Package zu buchen für die Schifffahrt und den Aufenthalt auf dem letzen Stück Frankreich in Nordamerika. Von Fortune Newfoundland bis nach St. Pierre et Miquelon braucht es 55 Minuten.

Nach ruhiger Überfahrt kam das erste Erstaunen bei der Einreise. Bei der Passkontrolle sollten wir schnell durchgewinkt werden, und man wollte mir den heiß ersehnten Stempel der Inselgruppe nicht in den Pass geben. Diese Erleichterung der Formalitäten gefiel mir gar nicht, und es brauchte ein bisschen Erklärung des Herzensanliegens zum Erfolg. Erst dann wurde uns bewußt, dass wir als Europäer nur in die EU zurück kamen. Ils sont fous, les Allemands, haben die Grenzer vermutlich gedacht. Aber ich hatte meinen Stempel im Pass und war glücklich.

Endlich der Stempel im Pass

Nach 68 Jahren ging nun endlich mein Wunsch in Erfüllung, diese Inselgruppe zu erleben.

Mit einem Schritt weiter kam der Eintritt in die französische Welt. Das Flair, die Geschäfte, die französischen Restaurants und Cafés und die selbstverständliche Sprache, da geht einem Frankophilen das Herz auf.

Ein Menü der Extraklasse mit ausgezeichneten Weinen genießen wir und das zu Preisen, die in Frankreich undenkbar sind

Trotzdem ist es nicht leicht, in dieser abgelegenen und vom Klima her unwirtlichen Gegend genügend Franzosen zum Bleiben zu bewegen. Französische Subventionen erleichtern das, indem man hier auf nichts verzichten muss, was man von Frankreich her kennt, vom französischen Wein bis zu …

Besonders deutlich macht sich die einsame Lage auf dem 45. Breitengrad bei einem Ausflug auf den südlichen Teil von Miquelon, „Langlade“. Hier weht ein kühler Wind über die hochwachsenden, dünnen Gräser, die das hügelige Inselland bedecken, so weit das Auge reicht.

Ab und zu ein längst verlassenes ehemaliges Landhaus, selten einmal eine Pferdegruppe, die davon zeugt, dass doch das eine oder das andere noch bewohnt zu sein scheint. Eine angehaltene Zeit.

Grenzgänge

Mai 2016 in New Mexico

Wollen Sie wirklich nach Mexiko? Wir sind falsch abgebogen und stehen plötzlich am Grenzübergang der USA nach Mexiko. Erstaunt verneinen wir und dürfen umdrehen. Auf dem Highway fahren wir jetzt weiter westwärts, entlang der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Rechts und links von uns leere weite Wüstenlandschaft und ein tiefer Graben, aus dem von Zeit zu Zeit Polizeiautos der Border Control hochfahren, auf der Suche nach illegalen Einwanderern.

Das schwarze Asphaltband vor uns flimmert in der brennenden Sonne, die uns den ganzen Tag begleitet. Mit dem bequemen Leihwagen, angenehm heruntergekühlt, Drinks auf der Konsole und Tempomat eingestellt, fahren wir entspannt weiter und können dabei die Landschaft vor uns erleben. Dieses Fahr- und Reisegefühl ist in Europa nicht zu haben. Wir sind, ausgehend von Los Angeles, zu einer Rundreise durch die Nationalparks des Südwestens losgefahren, mit einer gedachten Route, einigen festen Zielen, aber ohne genauen Plan außer dem Zwang des Rückflugdatums. Wir „tingeln“ gern und lassen uns überraschen, so auch jetzt, auf der Strecke von El Paso nach Westen, immer entlang der Grenze zu Mexico. Am späten Nachmittag fangen wir normalerweise an, uns um ein Motel zu kümmern. Die kleinen Ortsnamen auf unserer Karte lassen uns in Unsicherheit in dieser Gegend noch eine Unterkunft zu finden. Schon denken wir daran von dieser Grenzstraße zum Highway hochzufahren. Doch dann das Unerwartete: bei der Einfahrt nach Columbus sehen wir zu unserem Erstaunen ein großes Hotelschild. Ohne zu zögern fahren wir vor, und es ist „vacancy“.

Nach einem netten Gespräch mit Philip, dem Besitzer des Hotels, checken wir ein. Gegenüber an einem Gebäude wirbt ein großes Plakat für ein Restaurant, und alles scheint bestens zu sein. All dies in einem kleinen, etwas trostlos wirkenden Ort zu finden, hat uns überrascht.

Und dann kamen wir doch nach Mexico ohne die Marshallfrage, ob wir da wirklich hinwollen.

„Das Restaurant hier ist schon lange geschlossen. Ich fahr mit euch gleich rüber in ein gutes Restaurant in Mexiko, in 10 Minuten geht’s los. Das trifft sich gut. Ich muss da sowieso hin, in dieses Restaurant, deren Sohn ist neuer Schüler bei uns,“ sagt Philip, der Hotelier. Brauchen wir ein Visum für Mexico? Egal wir fahren hier hin und her, das macht nichts. I`ll drive.Freudige Überraschung und Erstaunen führte in kürzester Zeit dazu, dass sich unser Eindruck von einem kleinen, trostlosen Wüstenort diametral veränderte, und das in mehrfacher Hinsicht. Ich bin Republikaner und Ihr? war der Anfang des Gesprächs im Auto – ein unerwarteter Einstieg. Wir sind social democrats – ohne Kommentar ok.Und dann zeigte sich, wie eng Ideologien und Vorurteile sein können. Wie wichtig es ist, menschliche Begegnungen zu haben und den einzelnen Menschen zu erkennen ohne ihn gleich einzuordnen.

Auf der kurzen Fahrt zur Grenze und danach erfuhren wir seine beeindruckende Lebensgeschichte und die der Menschen in dieser hier grenzüberschreitenden Region. Ursprünglich aus Kalifornien und Unternehmer mit Produktionsstätte im Mexiko, ist er in Columbus geblieben und jetzt Bürgermeister von Columbus, Hotelier, Fremdenführer, Tourorganisator und Schulbusfaher in einer Person.

An der Grenze wurden wir einfach durchgewunken und kamen so in die Provinz Chihuahu.

Gleich hinter der Grenze sehen wir, untypisch für einen kleinen Grenzort, Schilder: American Dental Clinic und Optometrist Clinic. Hier fahren die Amerikaner hin, um zu günstigen Preisen den in den USA so teuren Zahnersatz und andere medizinische Leistungen günstig zu erhalten. Auf amerikanischer Seite gibt es dagegen eine Geburtsklinik, in der mexikanische Kinder bei der Geburt Amerikaner werden, erfahren wir während der kurzen Autofahrt. Als Schulbusfahrer holt unser Begleiter jeden Morgen die Kinder aus Palomas de Villa in die Highschool in Columbus und bringt sie abends wieder zurück. Seit über 50 Jahren fühlen sich die Menschen beiderseits der Grenze als im Grunde eine Kommune. Während er mit den Eltern über ihren Sohn als neuen Schüler der Highschool spricht, genießen wir ein äußerst leckeres mexikanisches Essen und fahren dann wieder, an der Grenze durchgewinkt, ins Hotel zurück.

Puerto Palomas de Villa , Chihuahua, Mexiko -Restaurant La Fiesta
Im Restaurant in Mexiko mit dem Bürgermeister von Columbus

Ein emotionales und unser Denken veränderndes Erlebnis einer gemeinsamen Welt, das einen starken Einfluss auf uns hat und vieles unserer bisherigen Vor-Urteile stark relativiert, weil vieles in neuem Licht erscheint.

Am nächsten Morgen verabschieden wir uns herzlich und fahren weiter westwärts zu unserem nächsten Zielort mit dem in dieser Wüstengegend sehr erwartungsvoll stimmenden Namen Twenty Four Palms.

Mit Cocktails am Pool unter angestrahlten Palmen kehrt dann eine andere Realität schlagartig zurück. Wir genießen den Abend in Gesellschaft eines netten Paares, und dann kommt das Gespräch auf die Politik. Man zeigt uns auf dem Smartphone ein Video als Beweis, dass Hillary Clinton Muslima sei, und wir erkennen, dass wir im Wahlkampf 2016 gelandet sind.

Dies aber konnte unser Erlebnis von Columbus nicht überlagern.

Jetzt, Jahre später im November 2020 mit meinem Projekt über herausragende Momente auf meinen Reisen zu schreiben, kommen die Bilder und Gespräche zurück und die Frage, wie es Columbus ergangen ist.

Die Recherche zeigt Trauer und Hoffnung zugleich. Die Ideologie hat auch Columbus und Palomas nicht verschont. Die beiden Orte haben sich stark verändert und sie getrennt. Aber jetzt erscheint neue Hoffnung am Horizont, dass diese „once-human-border relationship“ (The Economist,26.02.98) wieder auflebt und der Wille ist da, die alten Verbindungen wieder aufzunehmen, bevor es zu spät ist.

Wir sind durch diese Wüstenlandschaft damals im Mai gefahren, und die sonst nur grünen Kakteen blühten in allen Rot- und Gelbfarben. Diese Blüten stehen für das möglich Schöne in dieser Welt und in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Es war einige Jahre nur eine Hoffnung, die vielleicht bei der nächsten Blüte zur Gemeinsamkeit zurückführt.

Der Wunsch kommt auf, diesen Ort wiederzusehen.