August 2011
Zwei Alumünzen mit der Aufschrift „St.Pierre et Miquelon“ hatte ich in der Hand beim Durchwühlen einer Kiste mit Münzen aus aller Welt in einem kleinen Amsterdamer Touristenladen. Offensichtlich französisch: 1 und 2 Francs.
Aus eigener Sammlung
Es war in den Mitfünfzigern und ich vielleicht 12 Jahre alt – eine Zeit ohne Internet, Wikipedia und Google. Neben anderen kleinen Münzen, deren Schrift ich nicht lesen konnte, nahm ich diese beiden Alumünzen mit nach Hause – für wenig Geld, denn es gab auch noch keine detaillierten Münzkataloge mit Preisangaben. Meine Neugier war geweckt! Seit einigen Jahren sammelte ich erst Briefmarken, tauschte dann die Briefmarken mit meinem Bruder gegen dessen Münzen ein und erschloss mir so nach und nach die ferne, lockende Welt. Niemand, weder mein Erdkunde- noch der Französischlehrer, konnten mit diesem Ländernamen etwas anfangen. Dabei blieb es zunächst, bis ich auf einen alten Briefmarkenkatalog der Gebrüder Senf stieß, der alle auch noch so kleinen Winkel dieser Welt aufführte, wo je eine Briefmarke erschienen war.
Hier fand ich schließlich St. Pierre et Miquelon, eine Inselgruppe 25 km östlich der kanadischen Küste und südlich von Neufundland. Es ist französisches Überseegebiet, gehört heute somit auch zur EU, und es ist alles, was von der früheren französischen Kolonie Neufrankreich bis heute übrig blieb. Und es ist der westlichste Punkt Europas.
Für heutige jüngere Leser_innen ist dieser Suchprozess (heute Recherche genannt) kaum nachvollziehbar. So eine Frage klärt man heute in Minutenschnelle über Google.
In der Folge suchte ich weiter nach exotischen Münzen, versuchte Inschriften zu entziffern und mich über andere Länder zu informieren. Eines blieb immer im Hintergrund: ich wollte einmal im Leben nach St.Pierre et Miquelon.
Schon früh wurde meine Sehnsucht andere Länder kennenzulernen durch meine reiselustige Mutter weiter forciert. Mit einem Käfer und Zeltausrüstung auf dem Dachgepäckträger zog sie mit uns Kindern los, und oft war auch der eine oder andere Freund dabei, in immer weiter entfernte Orte. Über die niederländische und belgische Nordseeküste und dann in den warmen Süden durch Frankreich nach Italien bis Rom. Im Winter ging es mit dem deutschen Alpenverein nach Österreich und in die Dolomiten zum Skilaufen. Der deutsche Drang nach Süden zu Wärme, Palmen und blauem Meer wurde nach den langen Kriegsjahren und den folgenden nicht leichten Aufbaujahren immer stärker.
Das waren für mich lässige Ferien am Strand und sportliche in den Bergen. Doch unvermeidlich in Italien waren auch die ersten Begegnungen mit Kultur, den Interessen meiner Mutter und älteren Geschwistern folgend, mit Museumsbesuchen und Kathedralen und der Begegnung mit dem alten Rom. Dazu kamen immer mehr persönliche Begegnungen mit Menschen bis hin zu familiären Kontakten. Das war so richtig etwas für mich und mein Interesse am Anderen.
Aber es sollte noch lange dauern, bis ich die fernen Ziele in Asien, Amerika und Afrika erreichte, die ich schon über erste Fantasien, ausgehend von neuen Münzen, kennengelernt hatte.
Und dann war es fast so weit, endlich nach St. Pierre et Miquelon zu kommen.
Wegen einer schon lange bestehend intensiven Familienfreundschaft in Seattle begannen viele Reisen dorthin, mit unterschiedlichen Vor-bzw. Nachprogrammen.
1996 fuhr ich, inzwischen mit eigenen Kindern, von NewYork nach Seattle und über den Transcanada Highway zurück an die Atlantikküste mit dem Ziel, am Ende nach St.Pierre et Miquelon zu kommen. Es blieben nur wenige Tage bis zum Rückflug, und dann, welch eine Enttäuschung! Sturm über dem Atlantik und keine Garantie mit dem Schiff rechtzeitig wieder zurückzukommen. Ein Wunsch, der nicht in Erfüllung ging.
Erst viel später, im Jahr 2011, anlässlich eines Kongresses in Toronto, blieb dann endlich genug Zeit nach Neufundland zu fliegen und dort eine 3-Tage Package zu buchen für die Schifffahrt und den Aufenthalt auf dem letzen Stück Frankreich in Nordamerika. Von Fortune Newfoundland bis nach St. Pierre et Miquelon braucht es 55 Minuten.
Nach ruhiger Überfahrt kam das erste Erstaunen bei der Einreise. Bei der Passkontrolle sollten wir schnell durchgewinkt werden, und man wollte mir den heiß ersehnten Stempel der Inselgruppe nicht in den Pass geben. Diese Erleichterung der Formalitäten gefiel mir gar nicht, und es brauchte ein bisschen Erklärung des Herzensanliegens zum Erfolg. Erst dann wurde uns bewußt, dass wir als Europäer nur in die EU zurück kamen. Ils sont fous, les Allemands, haben die Grenzer vermutlich gedacht. Aber ich hatte meinen Stempel im Pass und war glücklich.
Endlich der Stempel im Pass
Nach 68 Jahren ging nun endlich mein Wunsch in Erfüllung, diese Inselgruppe zu erleben.
Mit einem Schritt weiter kam der Eintritt in die französische Welt. Das Flair, die Geschäfte, die französischen Restaurants und Cafés und die selbstverständliche Sprache, da geht einem Frankophilen das Herz auf.
Ein Menü der Extraklasse mit ausgezeichneten Weinen genießen wir und das zu Preisen, die in Frankreich undenkbar sind
Trotzdem ist es nicht leicht, in dieser abgelegenen und vom Klima her unwirtlichen Gegend genügend Franzosen zum Bleiben zu bewegen. Französische Subventionen erleichtern das, indem man hier auf nichts verzichten muss, was man von Frankreich her kennt, vom französischen Wein bis zu …
Besonders deutlich macht sich die einsame Lage auf dem 45. Breitengrad bei einem Ausflug auf den südlichen Teil von Miquelon, „Langlade“. Hier weht ein kühler Wind über die hochwachsenden, dünnen Gräser, die das hügelige Inselland bedecken, so weit das Auge reicht.
Ab und zu ein längst verlassenes ehemaliges Landhaus, selten einmal eine Pferdegruppe, die davon zeugt, dass doch das eine oder das andere noch bewohnt zu sein scheint. Eine angehaltene Zeit.