Grenzgänge

Mai 2016 in New Mexico

Wollen Sie wirklich nach Mexiko? Wir sind falsch abgebogen und stehen plötzlich am Grenzübergang der USA nach Mexiko. Erstaunt verneinen wir und dürfen umdrehen. Auf dem Highway fahren wir jetzt weiter westwärts, entlang der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Rechts und links von uns leere weite Wüstenlandschaft und ein tiefer Graben, aus dem von Zeit zu Zeit Polizeiautos der Border Control hochfahren, auf der Suche nach illegalen Einwanderern.

Das schwarze Asphaltband vor uns flimmert in der brennenden Sonne, die uns den ganzen Tag begleitet. Mit dem bequemen Leihwagen, angenehm heruntergekühlt, Drinks auf der Konsole und Tempomat eingestellt, fahren wir entspannt weiter und können dabei die Landschaft vor uns erleben. Dieses Fahr- und Reisegefühl ist in Europa nicht zu haben. Wir sind, ausgehend von Los Angeles, zu einer Rundreise durch die Nationalparks des Südwestens losgefahren, mit einer gedachten Route, einigen festen Zielen, aber ohne genauen Plan außer dem Zwang des Rückflugdatums. Wir „tingeln“ gern und lassen uns überraschen, so auch jetzt, auf der Strecke von El Paso nach Westen, immer entlang der Grenze zu Mexico. Am späten Nachmittag fangen wir normalerweise an, uns um ein Motel zu kümmern. Die kleinen Ortsnamen auf unserer Karte lassen uns in Unsicherheit in dieser Gegend noch eine Unterkunft zu finden. Schon denken wir daran von dieser Grenzstraße zum Highway hochzufahren. Doch dann das Unerwartete: bei der Einfahrt nach Columbus sehen wir zu unserem Erstaunen ein großes Hotelschild. Ohne zu zögern fahren wir vor, und es ist „vacancy“.

Nach einem netten Gespräch mit Philip, dem Besitzer des Hotels, checken wir ein. Gegenüber an einem Gebäude wirbt ein großes Plakat für ein Restaurant, und alles scheint bestens zu sein. All dies in einem kleinen, etwas trostlos wirkenden Ort zu finden, hat uns überrascht.

Und dann kamen wir doch nach Mexico ohne die Marshallfrage, ob wir da wirklich hinwollen.

„Das Restaurant hier ist schon lange geschlossen. Ich fahr mit euch gleich rüber in ein gutes Restaurant in Mexiko, in 10 Minuten geht’s los. Das trifft sich gut. Ich muss da sowieso hin, in dieses Restaurant, deren Sohn ist neuer Schüler bei uns,“ sagt Philip, der Hotelier. Brauchen wir ein Visum für Mexico? Egal wir fahren hier hin und her, das macht nichts. I`ll drive.Freudige Überraschung und Erstaunen führte in kürzester Zeit dazu, dass sich unser Eindruck von einem kleinen, trostlosen Wüstenort diametral veränderte, und das in mehrfacher Hinsicht. Ich bin Republikaner und Ihr? war der Anfang des Gesprächs im Auto – ein unerwarteter Einstieg. Wir sind social democrats – ohne Kommentar ok.Und dann zeigte sich, wie eng Ideologien und Vorurteile sein können. Wie wichtig es ist, menschliche Begegnungen zu haben und den einzelnen Menschen zu erkennen ohne ihn gleich einzuordnen.

Auf der kurzen Fahrt zur Grenze und danach erfuhren wir seine beeindruckende Lebensgeschichte und die der Menschen in dieser hier grenzüberschreitenden Region. Ursprünglich aus Kalifornien und Unternehmer mit Produktionsstätte im Mexiko, ist er in Columbus geblieben und jetzt Bürgermeister von Columbus, Hotelier, Fremdenführer, Tourorganisator und Schulbusfaher in einer Person.

An der Grenze wurden wir einfach durchgewunken und kamen so in die Provinz Chihuahu.

Gleich hinter der Grenze sehen wir, untypisch für einen kleinen Grenzort, Schilder: American Dental Clinic und Optometrist Clinic. Hier fahren die Amerikaner hin, um zu günstigen Preisen den in den USA so teuren Zahnersatz und andere medizinische Leistungen günstig zu erhalten. Auf amerikanischer Seite gibt es dagegen eine Geburtsklinik, in der mexikanische Kinder bei der Geburt Amerikaner werden, erfahren wir während der kurzen Autofahrt. Als Schulbusfahrer holt unser Begleiter jeden Morgen die Kinder aus Palomas de Villa in die Highschool in Columbus und bringt sie abends wieder zurück. Seit über 50 Jahren fühlen sich die Menschen beiderseits der Grenze als im Grunde eine Kommune. Während er mit den Eltern über ihren Sohn als neuen Schüler der Highschool spricht, genießen wir ein äußerst leckeres mexikanisches Essen und fahren dann wieder, an der Grenze durchgewinkt, ins Hotel zurück.

Puerto Palomas de Villa , Chihuahua, Mexiko -Restaurant La Fiesta
Im Restaurant in Mexiko mit dem Bürgermeister von Columbus

Ein emotionales und unser Denken veränderndes Erlebnis einer gemeinsamen Welt, das einen starken Einfluss auf uns hat und vieles unserer bisherigen Vor-Urteile stark relativiert, weil vieles in neuem Licht erscheint.

Am nächsten Morgen verabschieden wir uns herzlich und fahren weiter westwärts zu unserem nächsten Zielort mit dem in dieser Wüstengegend sehr erwartungsvoll stimmenden Namen Twenty Four Palms.

Mit Cocktails am Pool unter angestrahlten Palmen kehrt dann eine andere Realität schlagartig zurück. Wir genießen den Abend in Gesellschaft eines netten Paares, und dann kommt das Gespräch auf die Politik. Man zeigt uns auf dem Smartphone ein Video als Beweis, dass Hillary Clinton Muslima sei, und wir erkennen, dass wir im Wahlkampf 2016 gelandet sind.

Dies aber konnte unser Erlebnis von Columbus nicht überlagern.

Jetzt, Jahre später im November 2020 mit meinem Projekt über herausragende Momente auf meinen Reisen zu schreiben, kommen die Bilder und Gespräche zurück und die Frage, wie es Columbus ergangen ist.

Die Recherche zeigt Trauer und Hoffnung zugleich. Die Ideologie hat auch Columbus und Palomas nicht verschont. Die beiden Orte haben sich stark verändert und sie getrennt. Aber jetzt erscheint neue Hoffnung am Horizont, dass diese „once-human-border relationship“ (The Economist,26.02.98) wieder auflebt und der Wille ist da, die alten Verbindungen wieder aufzunehmen, bevor es zu spät ist.

Wir sind durch diese Wüstenlandschaft damals im Mai gefahren, und die sonst nur grünen Kakteen blühten in allen Rot- und Gelbfarben. Diese Blüten stehen für das möglich Schöne in dieser Welt und in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Es war einige Jahre nur eine Hoffnung, die vielleicht bei der nächsten Blüte zur Gemeinsamkeit zurückführt.

Der Wunsch kommt auf, diesen Ort wiederzusehen.