Im Januar 2020
Fast 50 Jahre ist es her, dass ein Bekannter mir erzählte, er habe einige Jahre zuvor ein Gorillababy für einen Zoo bei sich zu Hause aufgezogen. Er lud mich ein, gemeinsam seinen ehemaligen Zögling im Zoo zu besuchen. Schon als wir den Gang zum Gehege betraten, stieß der Gorilla die ersten leisen Freudenschreie aus. Er witterte sofort seinen Ziehvater. Das beeindruckte mich sehr, da dieser ja längere Zeit nicht zu Besuch gewesen war. Meine Begeisterung wich dann aber schnell einem gewissen Angstgefühl, als das Gehege aufgeschlossen wurde und der Ziehvater mich einfach mit in den Käfig hinein nahm. Der Gorilla, inzwischen zu stattlicher Größe herangewachsen, umarmte seinen Besucher glücklich und aufgeregt, blickte dann nach links zu mir und nahm mich ebenfalls in den Arm, ohne mich zu erdrücken. Mein Herzschlag setzte kurz aus, aber dann war es ein einmaliges Gefühl in der herzlichen Verbundenheit zwischen Mensch und Tier.
Und nun stand ich diesen großartigen Gorillas in freier Natur gegenüber.
Neun Tage sind wir bereits durch Uganda gefahren, immer im Hinterkopf an den Tag X denkend: Wird es regnen? Werden wir die Gorillas sehen…? Bis kurz vor unserer Ankunft in Entebbe hat es sintflutartige Regenfälle und Überschwemmungen gegeben. Seitdem sind die Hochwasser zurückgegangen und die Regenfälle seltener und kürzer. Das lässt hoffen. Wir können wieder auf den vorgeplanten Routen fahren, die Tage zuvor noch unpassierbar waren. Morgen werden wir zum Bwindi Nationalpark kommen, in dem mehrere Gorillafamilien leben. Die Spannung steigt, und trotz einiger Schlaftrunks wird es eine etwas unruhige Nacht voller Erwartung, Vorfreude und restlicher Ungewissheit, ob das Wetter mitspielen wird. Es hat gestern fast den ganzen Tag geregnet, heute aber scheint die Sonne, die langsam den Nebel verdrängt. Wir haben Glück. Aber der Boden ist noch feucht. Und dann beginnt das Abenteuer. Wir treffen die Ranger und Porter, müssen unsere Pässe abgeben und werden einer Gruppe zugeteilt. Maximal acht Personen gehören zu einer Gruppe. Bevor es losgeht, erhalten wir noch ausreichend Informationen über Sicherheitsvorschriften und Verhaltensregeln während der Suche nach den Gorillas und bei der Begegnung mit ihnen. In einem langen Habitationsprozess hat man die Bergorillafamilien an kurze einstündige Besuche gewöhnt. Dies ist die maximal erlaubte Zeit. Es gibt fünf Familien in diesem Park, und wir werden versuchen eine davon, die Bweza Familie, zu finden. Die Rangerin erklärt uns, dass die Familie von den Scouts in einer bestimmten Gegend gesichtet wurde, und wir also ungefähr wissen, wo sie sich aufhalten. Ich nehme mir einen Porter als helfende Hand. Dies sind junge Männer aus der Gegend, die sich auf diese Weise etwas Geld zum Leben dazu verdienen. Jedem von uns wird großer stabiler Stock noch zur Unterstützung mitgegeben, und auf geht’s. Voller Energie brechen wir auf, und es verspricht kein besonders schwieriger Weg zu werden, mit herrlichen Ausblicken auf das umliegende Panorama des Bergregenwaldes.
Dann biegt unsere Rangerin links ab, und von da ab geht es steil bergauf durch dichtes Unterholz. Wir folgen den Guides, die mit den Macheten einen Pfad durch den Bergregenwald schlagen – immer mit einer Seite nah am Hang und rechts den Abgrund vor Augen. Wir sind inzwischen auf über 2000 Metern Höhe. Seit mehr als zwei Stunden geht es durch dichten Dschungel, über rutschiges, feuchtes Wurzelwerk, Dornenbüsche streifend, manches Mal in Lianen verheddert oder durch versteckte Senken strauchelnd. An manchen Stellen müssen wir recht steile Hänge hinaufklettern, immer in Gefahr abzurutschen oder uns zu verletzen.
Auf einmal spielt alles eine Rolle. Der Aufstieg bringt uns an unsere Grenzen. Jeder Ausrutscher und jedes Straucheln kostet Kraft und nur der Gedanke an die Gorillas lässt uns stur weiterlaufen, keuchend und mit starrem Blick auf das unwegsame Gelände vor uns. Kurze Pausen sind immer wieder nötig, und einer von und scheint fast zu kollabieren, so dass wir etwas länger verharren. Konditionell bin ich gut dabei, aber aber der feuchte und glitschige Boden erfordert volle Konzentration bei jedem Schritt. Mehrmals verdanke ich nur meinem Porter, dass alles gut geht. Von täglichen Verletzten und dem „Uganda Helikopter“ (acht sich abwechselnde Porter mit Trage) hören wir zum Glück erst nachher von Moses, unserem Fahrer. Der Aufstieg und die Suche werden immer beschwerlicher.
Doch dann kehren die Lebensgeister schlagartig zurück. Durch die volle Konzentration bei jedem Schritt des steilen Aufstiegs und am Rande der Erschöpfung, gelangen plötzlich Geräusche an unsere Ohren. Ich bin wie elektrisiert. „Da müssen sie sein“ zeigt mein Porter weiter nach oben.
Letzte Energien werden jetzt mobilisiert, denn wir wollen die Berggorillas sehen, was nicht immer garantiert ist.
Noch müssen wir eine Weile kreuz und quer weiter aufsteigen, dann das Stoppzeichen unserer Rangerin, und sie zeigt uns die ersten Mitglieder unserer Gorillafamilie hoch vor uns auf den Bäumen.
Wie weggeblasen die Strapazen des Aufstiegs, und die Euphorie ist zurück, darf sich aber nicht äußern: Schweigen ist angesagt bei dieser Begegnung von Mensch und Tier in freier Natur. Eine Stunde haben wir nun Zeit die Bweza Gruppe zu beobachten. Ein tiefgehendes emotionales Erlebnis.
Wir gehen weiter, um näher an die Gruppe heranzukommen. Hinter einer Wegbiegung stoppt unsere Rangerin, und unvermittelt sehen wir uns einer Mutter mit zwei Jungtieren gegenüber. Ich frage leise: „Was nun?“ Sie zuckt mit der Schulter und beobachtet die Mutter voll konzentriert. Dann Entspannung. Das Muttertier dreht sich zur Seite, greift nach einem Ast und fängt an mit Genuss Blätter zu fressen.
Und die kleinen Gorillas verhalten sich wie alle Kinder, kommen munter und unbesorgt purzelbäumend auf uns zugerollt bis vor unsere Füße.
So nah dürfen sie uns aber nicht kommen wegen der Infektionsgefahr. Nach einem kleinen Klaps mit der Seite der Machete ziehen sie sich beleidigt auf einen Baum zurück.
Nach diesem erst spannenden und dann heiteren Erlebnis gehen wir weiter und treffen auf die gesamte Familie in einer Senke einige Meter unter uns.
Eine Stunde haben wir jetzt Zeit die Gorillas zu beobachten, eine Zeit, die wie im Fluge vergeht. Nach dem langen Aufstieg, aus unserer Sicht viel zu schnell, gibt die Rangerin das Zeichen zum Aufbruch. Doch dann bleibt sie plötzlich stehen und sieht etwas, was sie selbst trotz vieler Jahre im Park noch nicht erlebt hat: zwei Teenager machen ihre ersten, noch ungeschickten und vergeblichen Liebesversuche. Sie filmt dieses Ereignis ausgiebig, und so können wir noch eine Weile länger bleiben.
Erfüllt und glücklich kommt die Realität des zwar kürzeren, aber nicht minder gefährlichen Abstiegs in unser Bewusstsein. Mit leichten Prellungen, Zerrungen und Dornenspuren erreichen wir, ansonsten unverletzt, unseren Ausgangspunkt im Bwindi Nationalpark.
Dort verabschieden wir uns von unseren Portern, ohne die wir dieses Abenteuer nicht geschafft hätten, und erhalten unser Gorilla-Trecking-Diplom. Als ich für das Diplom aufgerufen werde, fangen alle an zu klatschen. Die Ranger hatten wohl in meinem Pass mein Geburtsdatum gelesen, und ich soll der bisher älteste Teilnehmer bei diesem Trekking gewesen sein. Erstaunt und etwas gerührt bedanke ich mich, behandele noch kurz mit Hilfe meines Notfallpäckchens einen Ranger, der sich mit der Machete tief geschnitten hatte. Zurück ging’s dann ins Traveller’s Rest, der Lodge, in der auch Dian Fossey damals gewohnt hatte.
Der nächste Tag dient der Erholung, und wir nehmen das Angebot einer “Relaxing after Gorilla Massage“ dankbar an.
Erst nach dieser Entspannung wurde mir richtig klar, welches Glück wir gehabt hatten mit diesem einmaligen Erlebnis der Begegnung mit der Bweza-Gruppe. Es gibt Ereignisse, wie auch vor vielen Jahren meine erste Gorillabegegnung, die nur schwer in Worte zu fassen sind.
Vor und nach der Gorillabegegnung sind wir mit insgesamt 2600 km eine große Runde durch ein schönes Land gefahren, ein Land das aber leider dabei ist seine Naturparks aus wirtschaftlichen Gründen zu zerstören. Hoffen wir auf eine Wende zu nachhaltiger Sicherung der Grundbedürfnisse der Menschen und Tiere, auf die Rettung einer einzigartigen Natur und darauf, dass noch für viele Menschen dieses Naturerlebnis in Zukunft erhalten bleibt.
(Fotos B.Mielke, J.Neidig)