Tibet

Auf der „Straße der Freundschaft“ von Lhasa nach Kathmandu

Zwischen Gebet und Gewalt

Am 22. September – kurz vor Reiseantritt am 6. Oktober  2012 – erreicht mich die Mail von Narayan, unserem nepalesischen Reiseleiter, der für mich schon mehrere Nepalfahrten organisiert und begleitet hat, dass alle Ausländer Tibet verlassen müssen und keine Einreise mehr möglich ist. Die geplante Studienreise mit Schulleiter*innen nach Tibet gerät in Gefahr. Vorfälle in Tibet, wie das Verbrennen einer chinesischen Flagge auf dem Mount Everest und eine Selbstverbrennung anlässlich eines Staatsbesuches in Peking, führen in der angespannten Situation auf chinesischer Seite automatisch zu drastischen Reaktionen. 

Alles ist vorbereitet und gebucht, und jetzt musste in Alternativen gedacht werden, die eigentlich niemand wollte. Erstaunlich die Reaktion der Gruppe: eine optimistisch-positive Lebenseinstellung vertraute auf eine Änderung der Politik bis zu unserer Ankunft. So flogen wir los – nicht ohne zuvor noch einmal alle Visaformalitäten zu erledigen – und kamen mit Etihad Airways und einem längeren Zwischenstopp in Abu Dhabi abends in Kathmandu an.

Vierzehn etwas müde Reisende freuten sich über die Begrüßung mit gelben Schals und einige von uns über ein Wiedersehen mit Narayan von der Nepaltour des letzten Jahres.

Das Hotel Manaslu war ein angenehmes „base camp“ für unsere Unternehmungen.  Hier trafen wir auf eine indische Gruppe, die sich auf die Besteigung des Mount Everests vorbereitete, geleitet von einer der ersten Frauen, der dies schon gelungen war. Ein dichtes Programm, ähnlich dem früherer Nepalfahrten in Kathmandu, lenkte von der Ungewissheit der Einreisemöglichkeit nach Tibet ab:  der frühmorgendliche Flug entlang der Himalayakette und dem Mount Everest, der Schulbesuch in der Bright Future School in Naikap, der Partnerschule der Düsseldorfer Dieter-Forte Gesamtschule, der Besuch des Schamanenzentrums mit Healings und interessanten Einblicken in diese Welt der alternativen Medizin, die UNESCO Weltkulturerbestätten Pashupatinath am heiligen Bagmati-Fluss, wo die Feuerbestattungen stattfinden, die buddhistische Stupa Boudhanath, Bhaktapur, Durban Sqare und Swayambhunath.

Und dann endlich die erlösende Nachricht, dass ab dem 8. Oktober, unserem Flugdatum nach Lhasa, begrenzte Einreisen nach Tibet wieder möglich waren. Wie auch immer Narayan es geschafft hat, wir waren dabei und erreichten nach einem beeindruckendem Flug über den Himalaya bei blauem Himmel und Sonnenschein unser Ziel Lhasa.

Schon Minuten später bei der äußerst intensiven Gepäckkontrolle merkten wir die Höhe, an die wir uns jetzt anpassen mussten. Ob alt, ob jung, sportlich oder nicht, man kann sich nicht darauf vorbereiten. Deutlich wurde diese Ungewissheit, als wir eine Gruppe Jugendlicher trafen, von denen einer kurz nach der Ankunft in Lhasa solche Höhenprobleme bekam, dass er sofort unter Sauerstoffbeatmung  ins Tal geflogen werden musste. Kurzum, wir waren in der glücklichen Lage, dass es oft anstrengend war, einige sich auch zwischendurch schlecht fühlten oder sogar nach eigener Auskunft an ihre Grenzen kamen – niemand aber ernsthaft höhenkrank wurde. Narayan beobachtete uns genau, um Anzeichen für Probleme rechtzeitig erkennen zu können.

 Der Aufstieg zur Besichtigung des Potala Palastes am nächsten Tag, zeigte uns deutlich, was Höhe bedeutet. Alle 50 Stufen mussten wir erst mal pausieren, bevor wir diesen eindrucksvollen Palast und vor allem  die faszinierende historische Atmosphäre in den Räumen erleben konnten, in denen Heinrich Harrer seinerzeit den Dalai Lama unterrichtete.

Der Potala Palast

Dann der Kontrast, der uns unter die Haut ging: in Lhasa überall Videoüberwachung, und an den Eingängen zum Hauptplatz, dem Barkhor Markt und Jokhang Tempel Scannerkontrollen wie am Flughafen. Wir gehen zum Abendessen in ein Lokal, aufgebaut ähnlich einer tibetische Jurte. Ich schiebe den Vorhang beiseite, und keine 30 Meter entfernt steht ein chinesischer Soldat mit Maschinenpistole im Anschlag auf dem Dach. Auf dem Rücken der Soldaten Feuerlöscher. Auf den Plätzen Planen, unter denen Stangen mit Eisenringen zu sehen sind, mit denen brennende Mönche weggezogen werden können. Der Widerstand der tibetischen Mönche hatte neue Wege entwickelt, um den Kontrollen zu entgehen. Die Mönche überschütteten sich mit Benzin, zogen einen Mantel darüber. Dies konnte durch Scannen nicht erkannt werden, und dann setzen sie sich in Brand. 1 ½ Millionen Soldaten, die Hälfte davon in Zivil, überwachen die Besatzung. Nirgendwo wird dies so drastisch vorgeführt wie in Lhasa. 

Nur allmählich gewöhnten wir uns an die dünne Luft, während wir auf der Fahrt über die sogenannte „Straße der Freundschaft“ durch Tibet bis auf 5400 Meter anstiegen. Eine faszinierende, unvergleichliche Landschaft breitete sich täglich vor uns aus. Das helle Weiß des Himalayas, das tiefe Blau der Bergseen, die Steinhaufen und tibetischen Gebetsfahnen, Yak-Herden, weite Getreidefelder in den Tälern und gastfreundliche Tibeter, wo immer wir anhielten. Dazu die berühmten tibetischen Klöster Depung, Tashilhunpo in Shigatse, Gyantse und Samye , mit diskutierenden oder einfach nur meditierenden Mönchen, Klöster mit jahrhundertealten Schätzen der tibetischen Kultur, die den Horden der Kulturrevolution entgangen sind.

Beim Betreten der Klöster taucht man ein in die für uns mystische bunte Welt des tibetischen Buddhismus, dargestellt durch Wandmalereien mit religiösen Motiven einer der vier tibetischen Hauptrichtungen des Buddhismus. Die Atmosphäre aus Stille und gedämpftem Licht mit den Gläubigen in tiefer Frömmigkeit vor den Altären oder im Tempelbereich mit ihren Gebetsmühlen unterwegs die Heiligtümer mehrmals umrundend, nimmt uns gefangen und für einen bestimmte Zeit wird man Teil dieser Lebensform, die zur inneren Ruhe und zum Anhalten des ständigen Weiterdenkens hin zu sich selbst führt. In manchen Klöstern erleben wir das leise Gemurmel betender Mönche, wir riechen die Rauchopfer für bestimmte Götter und hören den hellen kurzen Klang ritueller Instrumente. Gesammelt und beeindruckt kehren wir in unsere Gedankenwelt zurück und setzen die Fahrt fort und brauchen abends die Zeit, diese berührenden Erfahrungen zu besprechen und zu verarbeiten.

Geweckt werden wir frühmorgens von dem Befehlsgeschrei zum Morgenappell der chinesischen Besatzungskompanien, die überall in Tibet verteilt sind. Diese Kasernen liegen außerhalb der kleinen tibetanischen Dörfer, die leider durch die typisch triste Bauweise im ländlichen China verschandelt werden. Am Ausgang der Dörfer sind niedrige Stahlkonstruktionen über die Straßen gebaut, die nur PKWs durchlassen. Mit unserem Bus müssen wir zu einer extra Ausgangssperre mit strenger Kontrolle für Lastwagen und Busse. Die imperiale Dominanz der Chinesen, dieses ehemals frei Tibet für immer zu versklaven, zeigt sich auch in Details. Wo immer wir Hinweisschilder z. B. auf Städte sehen, steht der chinesische Name groß oben und sehr klein der tibetische, ursprüngliche Name darunter.

Unterwegs auf unserem Weg von Ost nach West überwältigen uns wieder die Eindrücke dieser so einzigartigen Landschaft. In einfachen kleinen Hotels übernachten wir, genießen das köstliche tibetische Essen wie Momos und die leckeren Fleischgerichte aus Yak und Hammel. Dazu schmeckte am besten das Lhasa oder Snowbier. Und dies im Zusammensein in einer Gruppe, die harmonisch miteinander auskam. Besonders auch mit Tashi, unserem tibetischen Führer, der so selbstverständlich sein Tibet verkörperte im Konflikt mit der chinesischen Überfremdung. Die letzte tibetische Nacht verbringen wir im Snow Leopard Guesthouse, einer alten Karawanserei gegenüber der chinesischen Seite des Mount Everest. Nepal hatte diese Seite des Himalaya an China abgegeben, um den Expansionsgelüsten des mächtigen Nachbarn etwas von dem ständigen Druck zu nehmen. Wir kommen beim Sonnenuntergang an. Die Spitzen der Berge des Himalayas leuchten rötlich von der Abendsonne, bevor es dann schlagartig äußerst kalt wird. Es gibt einen geheizten Raum im Guesthouse zum Abendessen, und in gemütlicher Runde geht es der kalten Nacht entgegen mit Wasser im Zimmer, gefroren in Eimern, und Zudecken nach der Zwiebelmethode. Wir hatten den Wecker gestellt, um das Schauspiel des Sonnenaufgangs am Mount Everest zu erleben.

Der Sonnenaufgang  sollte uns aus der partiellen Erstarrung erlösen. Es war so kalt, dass sich bei einem von uns eine Maus in seinen Schlafsack geschmuggelt hatte. Aber nichts geschah. Narayan hatte sich um eine Stunde vertan. Mein Vorschlag, uns durch kurze Läufe warm zu halten, endete schnell. Ich hatte die Höhe vergessen, und nach wenigen Metern Laufen war die Luft weg. Wir harrten trotzdem frierend aus bis zu dem grandiosen Lichtspiel des Sonnenaufgangs am Mount Everest. Ein warmes Frühstück taute uns wieder auf, und wir fuhren zur Grenzkontrolle, um Tibet zu verlassen.

Hier erfahren wir, dass Tibet wegen einer weiteren spektakulären Protestaktion erneut für Touristen gesperrt ist. Welches Glück für uns, dieses schmale Zeitfenster geöffnet gefunden zu haben. Wir verabschieden uns von unserem netten tibetischen Führer Tashi, der uns so viel über sein Land erzählt hat. Geboren in einem Tal fern von Lhasa fragte er einst seine Mutter, wann er geboren sei, und ihre Antwort war:  „Es hat geschneit.“

Es geht abwärts in Richtung Kathmandu. Die „Straße der Freundschaft“ in Tibet war militärisch gut ausgebaut, auf nepalesischer Seite wird es eine Abenteuerfahrt durchs Gebirge mit Straßen, durch Erdrutsche und Abbrüche fast unpassierbar, spannend, gerade wenn nichts passiert.

Zurück in Kathmandu erwartete uns unerwartet ein absolutes Highlight unserer Fahrt. Da die Zufahrt zum Mount Everest Basecamp wegen eines Erdrutsches gesperrt war, wurden Bergrettungen von Kathmandu aus gestartet. Durch Narayans Beziehung zu den Piloten erhielten wir die Chance, mit zwei Rettungshelikoptern durch den Himalaya bis zum Everest Hotel in 3800 Meter Höhe zu fliegen. Ein japanisches Hotel, zu dem alles hinaufgetragen werden muss, auch das Wasser für die Badezimmer. Die Luft ist so dünn, dass der Hubschrauber dort nicht mit fünf Personen landen konnte. Bei einem Zwischenstop auf einem Hochplateau werden zwei von uns zur Entlastung abgesetzt um später dort wieder abgeholt zu werden.

Abgesetzt auf einem Plateau irgendwo im Himalaya

Ein überwältigendes Naturerlebnis, als das Geräusch der Hubschrauber in der Ferne verschwindet. Hörbare Stille in der Einsamkeit mitten im Himalaya. Nach einer Weile taucht der Gedanke auf, dass niemand uns hier finden würde, wenn die Hubschrauber ihr Ziel verfehlen würden. Es kommt uns vor wie eine Ewigkeit, bis wir endlich das Tok Tok – Geräusch der Rotoren eines Hubschraubers hören, der dann auch uns zum Himalaya Hotel fliegt.  Zwei Stunden sitzen wir dort vor diesem Panorama mit Lhotse und Mt. Everest in der Sonne und können uns nicht losreißen von diesem Anblick. Dann geht es zurück. Die Rettungsaktion ist vorüber, und wir fliegen ins Tal zurück, um an einem letzten Tag nach Bhaktapur und Patan zu fahren, weitere Weltkulturerbstätten und ehemalige Königstädte im Kathmandutal.

Dann kommt der Abschied von Nepal. Unser Reiseleiter Narayan und der Direktor der Bright Future School, Daya Ram Tapa sind zur Verabschiedung am Flughafen, und die Gruppe fliegt zurück nach Hause.

Vier von uns bleiben zurück um ihre Freiheit noch für eine Anschlusswoche im Königreich Bhutan, dem Land des Bruttonationalglücks als höchster ethischer Einheit, zu verbringen.

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Veröffentlicht von

Dr.Mielke Burkhard

Dr.Burkhard Mielke Berlin ist meine Stadt – Geburtsort und seit Jahren wieder die Stadt, in der ich lebe. Geprägt hat mich am meisten mein Studium der Romanistik und des Sports an der Sporthochschule und Universität zu Köln. Begeistert hat mich jedoch meine Promotion zum Dr. phil., die mir ermöglichte, mit dem Thema „Tourismus oder Völkerverständigung? Die internationalen Begegnungen der Schulen“ eine Verbindung der Faszination des Reisens mit Begegnungen von damals jugendlichen Menschen, Kulturen und Lebensorten herzustellen. Als junger Lehrer waren es Schüler-Austauschfahrten mit Tunesien, als Schulleiter die Schulpartnerschaften mit Upstate New York, Beijing und Shanghai, als Präsident der Europäischen Schulleitungsvereinigung (ESHA) und Mitglied der Internationalen Schulleitungsorganisation (ICP) viele internationale Tagungen zur Bildung der Jugend an unterschiedlichsten Orten der Welt. Immer war es mein Bestreben, Leute mitzunehmen in diese Faszination des einen Augenblick lang Fremdens, des Austausches und der neuen Erfahrungen, die mir auf immer andere Weise sagen: Ja, das ist meine Welt.

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