Im Südpolarmeer
(März 2002)
Sonne, ruhige See und die Szenerie der Antarktis, die trotz gleichbleibender Motive ihren Reiz nicht verliert, haben die Stimmung an Bord nach dem Sturm bei Kap Hoorn verbessert. Dem Kapitän, den die Natur zu ständig neuen Entscheidungen zwingt, gelingt es, die aufkommende Enttäuschung über zwei verpasste Anlandungen sofort zu zerstreuen durch die Ankündigung, dass wir auf eine Insel kommen werden, die vorher noch von keinem Kreuzfahrtschiff erreicht wurde.
Dies ist der Beginn vieler schöner und oft aufregender Erlebnisse, aus deren Vielfalt auf unserem Weg durch das Südpolarmeer nur einige der Highlights hervorgehoben werden können.
Wir erleben endlich unseren ersten, sehnsüchtig erwarteten Landgang mit dem exakten Ablauf der Ausbootung in die Zodiacs nur mit Chipkarte , die versehentliches Zurücklassen von Passagieren verhindert, was deren sicheren Tod bedeuten würde. Auf Brown Bluff betreten wir erstmals Land in der Antarktis und stehen sofort inmitten ihrer Tierwelt, die wir bisher nur vom Boot aus bewundern konnten. Bärenrobben, Weddelrobben , Pinguine und Seeelefanten liegen herum und lassen sich nicht von uns stören. Nicht weit entfernt auf Paulet Island sehen wir in einer riesigen Kraterlandschaft Abertausende Adele Pinguine .
Lautes, aggressives Vogelgekreische und wildes Flügelschlagen wie bei Hitchcock zerreißt die Stille auf Deception Island. Skuars sind aufgestiegen und greifen einen Passagier an, der trotz aller Warnungen sich diesen brütenden Vögeln zu sehr genähert hatte. Deren Angriffen können tödlich enden: der Passagier entkommt ihnen nur knapp.
Die Hanseatic ist durch eine enge Durchfahrt in die Caldera von Deception Island eingefahren und hat vor der Walfischbay geankert. Hier waren früher mehrere Stationen der Walfischfänger, und die Knochenreste der erbeuteten Wale liegen am Strand verstreut. Da diese Caldera vom Meer und vom Inneren der Insel aus nicht zu sehen ist, erhielt sie ihren Namen. In der Uferzone dieser geschützten Bucht steigt Dampf auf. Er kommt vom heißem Wasser des Vulkans, der jederzeit wieder ausbrechen kann. Deshalb ist der Berg der benachbarten Telefon Bay übersät mit Seismographen und anderen Messgeräten als Frühwarnstation. Nach der Besteigung des Vulkans reicht die Zeit noch für ein angenehmes warmes Fußbad am Strand vor der Rückkehr aufs Schiff.
Weiter geht es in südlicher Richtung zur nächsten Insel. Ein unglaublicher Gestank umfängt uns dort. In schneller Folge sind die Zodiacs in Cuverville Island angelandet, und wir stehen mitten in einer riesigen Eselspinguin Kolonie und beobachten das hochaktive Treiben dieser Pinguine. Sie haben in der Regel zwei Junge, und es scheint ein Wunder, dass sie diese nach der Futtersuche im Meer in diesem Gewimmel wiederfinden. Aber nicht alle Jungen werden überleben. In der Bucht jagen die Seeleoparden. Jeder von ihnen frisst bis zu 26 Pinguine am Tag, und über ihnen kreisen Skuas, die größten Räuber in der Luft. Kehren die Eltern nicht zurück, sind die Jungen verloren.
Nach diesem Erlebnis endet unser Tag friedlich mit einem Barbecue an Deck. Dabei genießen wir in der Abendsonne die Durchfahrt durch den Errera Channel mit Gletschern auf beiden Seiten, floatenden Eisbergen, vorausschwimmenden Walen, Eisschollen mit Pinguinen, Robben, Walrossen und Seeleoparden. Die Fahrt endet für heute, als wir in der Paradise Bay in der Nähe der argentinischen Station Almirante Brown vor Anker gehen. Ein wunderbarer Moment in einer Umgebung, in der alles zusammenkommt, was man sich nur wünschen kann.
Am nächsten Tag machen wir dann gerade dort die Erfahrung der Unberechenbarkeit der Natur, erleben, wie sich ein Paradies in kürzester Zeit in einen gefährlichen Sturm verändern kann. Lautes Tuten von der Hanseatic fordert uns auf, sofort an Bord zurückzukehren. Unverständnis zeigt sich auf allen Gesichtern und wir haben keine Ahnung, was passiert ist und was das zu bedeuten hat. Ein wolkenloser, tief blauer Himmel, eine einmalige Kulisse, fast schon ölig glatte See, in der sich die Gletscher und Eisberge spiegeln. Eine Idylle, die sich in kürzester Zeit in ein tobendes Meer verwandeln sollte.
Mit dem ersten Zodiac wurde ich am Morgen zu der argentinischen Station Almirante Brown zur Paradise Bay gefahren, begleitet von dem lauten Krachen und Knacken der kalbenden Gletscher. Wir fahren mit Respekt und mit Abstand durch das Eisschollenwasser. Man weiß nie, was und wieviel plötzlich vom Gletscher abbricht, oder dass sich ein Eisberg im Wasser plötzlich total umdreht. Ein besonderes Erlebnis ist die Begegnung mit einem jungen Seeleoparden, der sich unserem Zodiac nähert und neben uns auftaucht. Unser Bootsführer hat bemerkt, dass das Tier nicht hungrig ist und keine Gefahr besteht, dass er die Luftkammern des Zodiacs zerbeißt. DerSeeleopard begleitet uns lange, bis er dann abdreht, um zwei ältere Seeleoparden auf einer Eisscholle zu ärgern.
Das Signal der Hanseatic ertönt, als wir in dem damals südlichsten Postamt der Welt bereits mit heutigem Datum gestempelte Postkarten kaufen und die zweite Gruppe gerade in die Bucht ausgelaufen ist. Mit dem ersten Zodiac kehre ich an Bord zurück und der Kapitän erklärt uns, was passiert ist. In dieser Gegend gibt es die gefährlichen Fallwinde. Er beobachtet die Berge, und wenn die ersten Wolken am Bergrand erscheinen, kommt Sturm auf. Obwohl das Schiff nur 1,5 Seemeilen entfernt ist, wird es knapp für die letzten Boote. Die letzten Passagiere werden mit angstverzerrten Gesichtern, immer wenn das Boot zur Anlandebrücke zurückpendelt, einzeln von vier Männern ins Schiff gezogen. Eine Meisterleistung der Zodiacfahrer und der Mannschaft, alle unverletzt und ohne Verluste an Bord zu bekommen
Am Abend erfahren wir noch, dass diese Station 1984 völlig ausbrannte, nachdem der Stationsarzt sie aus Verzweiflung angezündet hatte. Er hatte sich für ein Jahr verpflichtet, wurde aber danach nicht abgeholt, weil kein anderer Arzt zur Verfügung stand. Als dasselbe sich wiederholte und er die dritte Überwinterung im Polarwinter vor Augen hatte, legte er Feuer, um seine Rückkehr zu erzwingen. Dem mutigen Einsatz der Besatzung der Palmerstation in der Nähe ist die Rettung der gesamten Besatzung zu danken.
Jeden Tag gibt es neue Überraschungen, diesmal die Ankündigung des Kapitäns, zu versuchen, über den bisher von Kreuzfahrtschiffen erreichten südlichsten Punkt des Südpolarkreises zu fahren und somit einen neuen Rekord aufzustellen. Wir überqueren den Südpolarkreis ( 66°30′ Süd ) am 24. Februar um 16:10 Antarktiszeit (20:10 MEZ). Die Spannung steigt, als wir langsam durch dichtes Packeis weit über den Südpolarkreis hinausfahren und den neuen Rekord aufstellen. Der mit Champagner unterlegte Jubel ist groß und die Vorfreude auf die nächsten Erlebnisse steigt.
Bei weiteren Stationen überrascht uns immer wieder die Fauna der Antarktis in ihrer unterschiedlichen Ausprägung. Neben den Skuas, Sturmvögeln und Albatrossen sehen wir auch große Kolonien von Blauaugenkormoranen an den Berghängen – Robben und Seeleoparden, Walrosse und Seebären sowie die Vielfalt der Pinguine zu Wasser und zu Land.
Richtig interessant wird es dann noch einmal, als wir am Kai der Rothera Station anlegen.
Unser Expeditionsleiter, David Fletcher, hat diese britische Antarktis- Forschungsstation mit aufgebaut und später alle britischen Stationen der Antarktis koordiniert. Nur deswegen erhielten wir hier die Erlaubnis zum Besuch und wurden herzlich begrüßt. Doch auch etwas Trauer und Bedrückung ist bei der Mannschaft zu spüren. Erst vor kurzem ist eine Wissenschaftlerin beim Tauchen bei der Suche nach Gründen für die Klimaerwärmung von einem Seeleoparden getötet worden.
Am Rande vermerkt erzählte David uns, dass er in der ersten britischen Station Port Lockroy von 1944 kurz nach der Ankunft mit einer kleinen Gruppe und völlig auf auf sich allein gestellt, den entzündeten Blinddarm eines Crewmitgliedes im Funkkontakt mit Ärzten auf den Falkland Inseln erfolgreich operierte. Seitdem gilt für alle, die in der Antarktis überwintern müssen, sich vorher den Blinddarm entfernen zu lassen. David Fletcher ist inzwischen hoch dekoriert, zum Lord erhoben und ein Berg in der Antarktis wurde nach ihm benannt: Fletcher Bluff. Es ist toll, ihn als Expeditionsleiter an Bord zu haben.
Inzwischen ist die Rothera Station sehr groß geworden und man zeigt uns die gesamte Einrichtung und auch den komfortablen Gemeinschaftsraum, der besonders für diejenigen wichtig ist, die demnächst den extremen Polarwinter überstehen müssen. Mit unserer Abfahrt am 5. März werden einige Stationsmitglieder mit uns zurückfahren bis auf eine Crew von circa 20 Personen, die vor Ort überwintert, um die Station am Laufen zu halten. Einer unserer Führer durch die Station erzählt uns dann, dass es für ihn ein besonderes Erlebnis sein wird, Neujahr am Südpol zu verbringen. Leider müssen wir relativ schnell ablegen, da sich ein großer Eisberg nähert und die Ausfahrt aus dem kleinen Hafen zu verhindern droht.
Mit diese Ausfahrt beginnt langsam auch die Rückfahrt.
Am nächsten Morgen landen wir noch auf Detaille Island, einer ehemals Britischen Station, die aussieht, als ob man sie fluchtartig verlassen hat. Alles wurde da gelassen – Vorräte für fünf Jahre, eine große Bibliothek, antiquarische Schmuckstücke neben alten Witzheften, Pinups und Tierbüchern. Ein interessanter Einblick in die frühen Stationen im Vergleich zur modernen Rothera Forschungsstation.
Eine große Kolonie Eselspinguine macht sich hier breit. Sie sind die streitbarsten Pinguine, die sich untereinander um jeden Zentimeter Platz fetzen und in der Kolonie ist immer Zoff. Die Tiere befinden sich bei unserer Ankunft in großer Aufregung. Sie betrachten uns Menschen als Pinguine. Immer wieder kommen sie balzend auf uns zu und legen uns kleine Steine, die hier nicht leicht zu finden sind, vor die Füße. Diese Steine werden bei den arktischen Temperaturen als Unterlage für die Eier gebraucht, damit sie nicht am Boden fest frieren.
Und dann wird als Letztes der Stopp erfolgen, den wir wegen des Sturmes auf der Hinfahrt ausfallen lassen mussten
Prospect Point, „Wenn man diesen Ort besucht, gehört man zu den wenigen Menschen, die überhaupt jemals hier waren“ steht in der Bordzeitung. Es wird neben Paradise Bay die schönste Bucht, die wir gesehen haben. Die Bucht der gefangenen Eisberge ist voller Eisschollen und kleiner Eisberge. Erst sieht es so aus, dass wir deswegen nicht anlanden können. Doch dann findet der Vortrupp der Scouts eine Passage. Wir werden langsam auf mäandernden Fährten durch das Packeis gelotst.
Die Tiere dort sind Besuch nicht gewöhnt und entfernen sich bei unsere Ankunft. Wir müssen bergauf durch tiefen Schnee bis wir auf einer Schneeplatte mit wunderbarer Aussicht stehen. Vor uns Adele Pinguine, deren Neugier sie zu uns zurückbringt, dann Bärenrobben, im Meer jagende Seeleoparden und – hinter Eisbergen – die Hanseatic. Das vorübergehende Gefühl, nach zwei Wochen alles gesehen zu haben, wird aufgehoben durch die unvergleichliche Schönheit dieser Insel und dem folgenden Abenteuer der Rückfahrt. Die Sonne kommt durch und lässt das Eiswasser schillern. Im Rücken ein hoher Berggipfel, weiter entfernt hinter Eisbergen unser Schiff. Traumhaft schön!
Auch die Pinguine bewegen sich hier anders. Sie rutschen auf dem Bauch um sich fortzubewegen, ein lustiges Schauspiel. Wir können leider nicht lange bleiben und werden an Bord zurückgerufen, da die Bucht sehr schnell zufriert. Wie schnell das geht, habe ich nicht für möglich gehalten. Ich bin in einem der letzten zwei Boote. Der Treibeisgürtel zieht sich zusammen und wir brauchen sehr lange, um einen Weg zurück zu finden. Immer wieder muss der Motor hochgezogen werden, um Eisschollen wegzutreten. Zwischendurch sah es so aus, als ob wir es nicht schaffen würden und vom Schiff aus etwas hätte geschehen müssen. Für diesen Fall hatte unser Scout mit einer Flasche hochprozentiger Flüssigkeit zum Aufwärmen vorgesorgt. Durchgefroren erreichen wir das Schiff. Vor dem Ablegen sagt der Kapitän per Durchsage, dass die Situation für die letzten Boote „abenteuerlich“ gewesen sei.
Danach verlassen wir die Antarktis mit einem letzten Höhepunkt. Unser Kapitän versucht durch den wegen seiner Schönheit berühmten Lemaire Kanal (13 km lang und nur 520 Meter breit) in Richtung Drake Passage zu fahren. Mehrere Jahre hintereinander mussten diese Versuche abgebrochen werden, weil kein Durchkommen war. Ich stehe mit auf der Brücke, es herrscht eine ruhige konzentrierte Atmosphäre. Kommandos werden leise gegeben. Mit vier Leuten wird das Schiff langsam um die Eisberge herum durch das Packeis manövriert. Gefährlich sind nur die größeren Schollen, bei denen man nicht weiß, was unten dranhängt. Ein lautes Krachen zeigt ab und zu an an, dass wir unter Wasser mit dem Bug an den Unterbau einer solchen Eisscholle geraten sind. An beiden Seiten der engen Durchfahrt begleiten uns hell strahlende Gletscher in der gleißenden Sonne. Dann taucht vor uns die enge Öffnung des Channels auf und wir sind durch. Bevor wir dann ins freie Wasser kommen, müssen wir noch durch eine breite Eisbarriere durch, die sich vor dem Ausgang aufgetürmt hat. Jetzt geht es zurück zur Drake Passage. Orcas und kleinere Wale begleiten uns auf diesem Weg und später kommen die großen Humpbacks hinzu.
Jetzt heißt es Abschied nehmen. Wir verlassen Antarctica und fahren diesmal bei ruhiger See durch die Drake Passage. Und plötzlich riecht es „grün“, zum ersten mal nach 14 Tagen. Wir atmen tief ein und sind zurück in der Welt mit Vegetation, die am Ufer beginnt. Bei guter Sicht fahren wir am Kap Hoorn vorbei und können diesen berühmten Platz der Welt von Bord aus sehen. Eine Anlandung ist nicht mehr möglich, da Kap Hoorn nun chilenisches militärisches Sperrgebiet ist.
Der letzte Abend an Bord beginnt mit einem farbigen Sonnenuntergang als Hintergrund zum Captains Dinner und Abschied von der Crew, die für uns Shantys singt. Welch ein Unterschied zu dem Sturm am Kap Hoorn auf unserer Hinfahrt. Der Lotse kommt am nächsten Morgen an Bord und bringt uns sicher nach Ushuaia.
Die Antarktis Essays sind Kapitän Ulf Wolter und dem Expeditionsleiter David Fletcher mit ihrem Team und der Crew gewidmet. Sie haben durch ihren von Verantwortung getragenen Mut, ihr Wissen un ihre Erfahrung diese Reise zu einem außergewöhnlichen Erlebnis gemacht.